Diese Halloween-Kurzgeschichte wurde im John Sinclair Roman 2312 ,Der Zorn der Totengeister‘ als Leser-Kurzgeschichte veröffentlicht.
Der Krüppel
2021 © Alexander Weisheit
(weisheit(at)weisheitsperlen.de)
„Süßes, sonst gibt’s Saures!“
Dieser Spruch steht zu Beginn vieler Halloween Geschichten. Auch in dieser, die in einer Halloweennacht vor gut zwanzig Jahren ihren Anfang findet, rufen vier Kinder ihn einem Hausbewohner entgegen, der gerade die Türe öffnet. Erwartungsvoll stehen die Vier im Alter zwischen 9 und 12 Jahren, in gruselige Halloweenkostüme gekleidet und Süßigkeiten einfordernd, wie es der Brauch ist, vor ihm und halten ihre Tüten auf. Der Mann im Türrahmen lächelt sie an und gibt ihnen jeweils eine Hand voll aus einer Schüssel. Artig bedanken sie sich, der Mann wünscht ihnen noch einen gruseligen Abend und schließt die Tür, während die Kinder das Grundstück verlassen.
Es ist kalt in dieser Halloweennacht und die drei Jungen und das Mädchen sind warm unter ihren Verkleidungen angezogen. Atemwolken stehen sichtbar vor ihren Mündern.
„Das war das letzte Haus in der Straße“, sagt Felix, der 10jährige und schiebt seine Skelettmaske nach oben, um einen Blick in den Beutel zu werfen. „Da passt aber noch was rein“, bemerkt er etwas traurig.
„Wir könnten auf die andere Seite gehen“, meint Katharina. Sie ist 9 Jahre alt und trägt ein Hexenkostüm. Katharina ist ganz wild darauf an den Haustüren zu klingeln, Bewohner zu erschrecken und Süßigkeiten dafür zu bekommen.
„Ich habe keine Lust mehr“, meint Jonas, der einfach ganz in schwarz gekleidet ist. Schwarze Jeans, schwarzer Hoodie und das Gesicht schwarz bemalt. „Mir reicht es.“ Jonas ist wie Felix 10 Jahre alt und geht mit ihm in eine Klasse. Den ganzen Tag über ist er nicht sonderlich begeistert davon, in der kalten Oktobernacht mit seinen Freunden umherzuziehen. Aber sie sind halt Freunde, und deshalb schließt er sich ihnen natürlich an.
„Wir könnten auch zum Krüppel gehen“, mischt sich jetzt Dennis ein. Dennis ist der Größte und Älteste der kleinen Gruppe. Er ist bereits Zwölf und geht in die siebte Klasse. Heute hat er sich als gruseliger Vampir verkleidet.
„Krüppel sagt man nicht!“, wirft Katharina entsetzt ein. Dennis ist ihr großer Bruder.
Die vier Kinder sehen sich eine Weile schweigend an. Ihre weißen Atemwolken zerfasern im dunklen Nachthimmel. Jeder von ihnen weiß, was Dennis mit dem Krüppel meint.
Genau vor einem Jahr, in der letzten Halloweennacht, ist ein Blitz in die große, alte Kastanie am Dorfrand eingeschlagen. Er hat den Baum gespalten und in Brand gesetzt. Bis die Feuerwehr vor Ort war, hatte das Feuer den Baum bereits zu einem schwarzen, verkohlten Etwas werden lassen. Eben zu einem Krüppel, wie die Kinder ihn ab dem Unglück nannten. Gespalten und die knorrigen, schwarzen Äste in alle Richtungen reckend, sieht er wirklich so aus. Und er flößt den Kindern Angst ein.
„Das ist nicht dein Ernst, Dennis?“, fragt seine Schwester verängstigt.
„Klar. Das wäre doch für diese Nacht genau das Richtige“, spricht Dennis weiter. „Oder habt ihr Angst?“ Katharina nickt vorsichtig. Aber Felix und Jonas geben es nicht zu.
Die Ereignisse um den Blitzeinschlag waren schon ungewöhnlich. Es hatte zum letzten Halloween kein Unwetter im eigentlichen Sinne gegeben. Es hatte etwas geregnet, aber es gab keine Blitze und Donner, wie bei einem normalen Gewitter. Bis auf diesen einen Blitz. Es war unerklärlich gewesen. Die Erwachsenen sagen, die Luft hätte sich damals aufgeladen und diesen Blitz ausgelöst. Aber die Kinder spüren, dass sie das nur zu ihrer eigenen Beruhigung sagen.
„Dann kommt“, übernimmt Dennis die Führung. „Wir sehen ihn uns an, und dann gehen wir alle nach Hause.“
Keiner will sich eine Blöße geben, und deshalb ziehen sie zu viert weiter. Die Beutel, gefüllt mit Süßigkeiten, baumeln an ihrer Seite. Die letzte Straßenlaterne bleibt am Dorfrand zurück. Vor ihnen liegt die Dunkelheit, durch die die Straße zum nächsten Dorf führt. Die vereinzelten Lichter am Horizont zeigen die nächste Ortschaft an.
„Ob das wirklich eine so gute Idee ist?“ fragt Katharina, die kleine Hexe, als sie in die Dunkelheit blickt. Fest klammert sie sich an den Arm ihres großen Bruders. Jonas und Felix folgen schweigend.
Der Krüppel steht nicht weit vom Dorfausgang entfernt. Im Hellen hätte man ihn gut sehen können. Doch in der Nacht verschmilzt das verbrannte Holz mit der Dunkelheit. Dicht aneinander gedrängt und mit aufgerissenen Augen in das Dunkel starrend, gehen die vier Kinder an der Straße entlang. Dann sehen sie vor sich die Lichter eines Autos näher kommen. Erst langsam, dann immer schneller vergrößert sich das Scheinwerferlicht. Der Motor wird beim Näherkommen lauter. Als das Auto nah genug heran ist, reißt das helle Licht den schwarzen Baum kurz aus der Dunkelheit. Im bewegenden Lichtschein sieht es so aus, als würde der Baum grotesk mit seinen verbrannten Ästen wackeln und um sich greifen. Katharina schreit auf, der Wagen fährt mit aufheulendem Motor an den vier Kindern vorbei und verschwindet hinter ihnen im Dorf. Die plötzliche Helligkeit hat sie kurz geblendet. Jetzt stehen sie wieder in der stillen Dunkelheit. Und der Baum ist ganz nahe.
Jonas bemerkt die Veränderung vor ihnen zuerst.
„Da leuchtet etwas.“
Jetzt sehen auch die Anderen den flackernden Schein, der sich vor ihnen befindet.
„Das ist am Baum“, bestätigt Katharina. „Ob der wieder brennt?“
„Quatsch!“, meint Dennis. „Der hat schon ein Jahr nicht mehr gebrannt.“
„Vielleicht hat dort jemand ein Feuer gelegt“, versucht Felix zu argumentieren.
Keine zehn Meter von dem Baum entfernt stehen die vier Kinder jetzt. Noch ist das Flackern gering, aber sie sehen bereits den Schatten des Baumes. Die unruhige Lichtquelle scheint sich hinter dem Baum zu befinden und gibt ihm ein gruseliges Aussehen. Und wieder sieht es so, als würden sich die knorrigen Äste bewegen. Ein Schauer läuft ihnen über den Rücken und ihre Münder stoßen die weißen Atemwolken jetzt schneller aus. Katharina drückt sich noch enger an ihren Bruder.
„Lass uns gehen, Dennis. Ich habe Angst!“, sagt sie ängstlich.
Es sieht wirklich so aus, als brenne etwas innerhalb des gespaltenen Stammes. Die kleine Gruppe steht unbeweglich davor.
„Wir müssen das Feuer löschen!“, bemerkt Jonas.
„Wo sollen wir denn hier Wasser herbekommen?“, fragt Felix ungläubig.
Jonas geht mutig etwas näher und umrundet den Baum, um von der anderen Seite zu sehen, was da brennt. Dennis geht ihm zwei Schritte hinterher und zieht seine Schwester dadurch mit. Auch Felix folgt stockend.
„Bleib da lieber weg“, versucht Dennis Jonas davon abzuhalten näher an den Baum zu treten.
„Vielleicht können wir etwas Erde darüber werfen, damit die Flammen erlöschen“, glaubt Jonas eine Lösung zu haben. Er kann seitlich einen Blick in den geborstenen Stamm werfen und blickt auf die armlangen Flammen, die unruhig zu tanzen scheinen. Noch haben sie nicht genügend Nahrung gefunden.
„Komm zurück“, bittet jetzt auch Felix. Doch Jonas hat sich bereits gebückt und die Hände mit Erde gefüllt. Mit einem Schritt nach vorne wirft er die Ladung zwischen den Stamm auf das Feuer.
„Vorsicht!“, ruft Dennis, als er sieht, was passiert.
Als wäre die Erde neuer Brennstoff schlagen die Flammen plötzlich mannshoch auf. Jonas spürt die Hitze auf seiner schwarz angemalten Haut. Erschrocken macht er einen Schritt zurück und blickt in das Feuer vor ihm. Jonas traut seinen Augen nicht, als er die Flammen beobachtet, die sich so gar nicht wie Feuer verhalten.
„Komm da weg!“, ruft Dennis und versucht Jonas zum zurückweichen zu bewegen. Er selber traut sich nicht nach vorne, denn die Hitze schlägt den Kindern entgegen. Felix ist auch zurück gegangen, nur Jonas steht noch da und blickt wie hypnotisiert hinein. Prasselnd und knisternd bewegen sich die Flammenzungen wild hin und her, aber nicht so, wie die Kinder es gewohnt sind. Sie züngeln seitlich aus dem Stamm heraus und bilden Arme, die ihren Weg zu den Kindern zu suchen scheinen. Katharina schreit schrill auf und Dennis drückt sie fest an sich. Wie eine Schlange bewegen sich die Flammen gegen ihre natürliche Richtung.
„Jonas!“, ruft jetzt auch Felix voller Verzweiflung, denn der bewegt sich immer noch nicht. Die Kinder sehen, wie sich Qualm unter der Kapuze ihres Freundes bildet und an seinem Hoodie aufsteigt.
„Komm da endlich weg!“, ruft Dennis erneut. Die Hitze zwingt ihn einen weiteren Schritt zurück. Der Stamm des Baumes vor ihnen ist in Feuerzungen gehüllt, die weiter ihren Weg suchen.
„Nein!“ Katharina schreit schrill auf.
Wie die Finger einer feurigen Hand greifen die Flammen nach Jonas und setzen seine Kleidung in Brand. Noch mehr Qualm dringt aus den Ärmeln und Hosenbeinen. Die Haare unter der Kapuze des Hoodie verbrennen in einer Stichflamme. Die Haut schmilzt unter der sengenden Hitze. Kein Schrei dringt aus seinem Mund, als sich die Flammen um seinen Körper legen. Doch die Freunde schreien und kreischen, rufen Jonas Namen, Tränen fließen im Angesicht des Schreckens, der sich vor ihnen abspielt. Sie können ihrem Freund nicht mehr helfen, ohne in die Gefahr zu geraten, selbst ein Opfer der Flammen zu werden.
Bevor sich die drei umdrehen und schreiend in Richtung Dorf rennen, sehen sie noch, wie Jonas von den Flammen hochgerissen und in den Stamm gezogen wird.
Als etwas später die Polizei und Feuerwehr an dem Baum nach Spuren suchen, finden sie weder welche von dem ungewöhnlichen Brand, noch von Jonas. Jonas ist seit dieser Halloweennacht verschwunden …
ENDE