Der dritte Teil der Shachaar-Chroniken wurde im John Sinclair Roman 2247 ,Der Unsterbliche‘ als Leser-Kurzgeschichte veröffentlicht.
Hector de Valois
Dritter Teil der Shachaar-Chroniken
2021 © Alexander Weisheit
(weisheit(at)weisheitsperlen.de)
Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Er zählte sein Leben nicht in Stunden, Tagen oder Wochen. Schmerz und Qual waren die Maßstäbe, an denen er sich orientierte. Er lag nackt und zitternd auf nassem, faulenden Stroh. Die Kälte spürte er ebenso, wie Hitze und Schmerzen. Sein Körper war mit Narben übersät, die bleiche Haut überspannte die Knochen und ließen ihn fast wie ein Skelett erscheinen. Sein Körper war gleichermaßen haarlos wie der Schädel, nur die schwarzen Augen deuteten darauf hin, dass er kein Mensch war.
Krachend zerbarst die dunkle Eichenholztüre und brennende Splitter flogen in den Raum hinein.
Der hochgewachsene Mann mit dem mutig zur Türe gerichteten Schwert, wich nur einen kleinen Schritt zurück, während ihm die Fragmente um die Ohren flogen. Staub und Dreck begleiteten die Druckwelle. Fünf Gestalten, in dunkle Kutten gekleidet und mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen, erschienen schattenhaft im Türrahmen. Zielgerichtet schritten sie in den Raum und verteilten sich strategisch.
Dem Schwertträger in Wams und Kettenhemd war nun jedwede Möglichkeit zur Flucht verwehrt. Trotzig reckte er sein Kinn mit dem Knebelbart nach vorne und sah den Eindringlingen tapfer entgegen.
»Du hättest auf uns hören sollen, Hector«, sprach ihn der am nächsten stehende Kuttenträger an. »Dann wäre dir das Kommende erspart geblieben.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, Hemophab!«, antwortete ihm der Angesprochene. »Einem Baphomet-Anhänger ist nicht zu trauen. Das hast du schon mehrfach bewiesen!«
Hemophab lachte.
»Aber du hättest entscheiden können, ob dein Tod schmerzhaft wird oder ich Gnade walten lasse.«
Hector schüttelte den Kopf und streckte seinen rechten Arm mit dem Schwert weiter nach vorne, was Hemophab nicht zu beeindrucken schien.
»Niemals werde ich dir den Weg zum Templergold weisen!«, antwortete Hector entschlossen.
»Dann wird dein Tod langsam und schmerzhaft sein ...«, versprach Hemophab und gab seinen Begleitern ein Zeichen.
Die vier Baphomet-Anhänger traten an Hemophab vorbei und versuchten Hector von zwei Seiten in die Zange zu nehmen. Sie hielten Schwerter in den Händen, über deren Klingen plötzlich Flammen zuckten. Jetzt bewegte sich Hector doch etwas zur Seite, auf das mitten im Raum stehende, große Himmelbett zu, um dieses zwischen sich und zwei der Angreifer zu bringen.
»Schnappt ihn euch!«, befahl Hemophab.
Schon schlug der Erste zu. Behände wehrte Hector den zu seinem Kopf geführten Angriff ab und sah von rechts bereits das zweite Schwert auf sich zurasen. Schnell stieß er den gerade parierten Schlag zurück und wand sich dem zweiten Angreifer zu. Diesem seitlich geführten Schlag konnte er mit einer geschickten Drehung ausweichen und gelangte so in den Rücken des Angreifers. Hector zögerte nicht, als er dem Baphomet-Anhänger sein Schwert in den ungedeckten Rücken stieß. Er durfte keine Gnade walten lassen, denn seine Widersacher würden dies auch nicht tun.
Tödlich getroffen brach der erste Feind zusammen. Hector wand sich jetzt wieder dem verbliebenen der zwei Angreifer zu und wich einen weiteren Schritt zurück. Die zwei weiteren Gegner, die sich von der anderen Seite näherten, befanden sich noch auf der gegenüberliegenden Seite des großen Himmelbettes. Hector hatte sich jetzt so gedreht, dass die Wand seines Schlafgemaches ihm als Schutz im Rücken diente.
Hemophab war vor gut einer Woche mit seinen Schergen auf Schloss Medoque eingedrungen, um Hector das Geheimnis des Templergoldes zu entlocken. Jeden Tag hatten sie ihn danach gefragt, doch Hector war verschlossen geblieben. Daraufhin töteten die Dämonendiener nach und nach die Bediensteten und Freunde, die mit Hector auf dem Schloss gewohnt hatten, und opferten sie ihrem bösen Götzen Baphomet. Hector wurde in seinem Schlafgemach gefangen gesetzt. Essen hatten sie ihm gegeben, sogar die Waffe hatten sie ihm gelassen.
Die Trauer und Wut in Hector war mit jedem unnützen Tod gewachsen. Aber er war standhaft geblieben und würde das Geheimnis bis zu seinem Tode wahren.
Der Angreifer drang wieder auf Hector ein und schwang sein flammendes Schwert in einer Schnelligkeit, die Hector in Bedrängnis brachte. Die Schläge prasselten auf ihn ein, und immer wieder hob Hector sein Schwert zur Parade und schlug die Angriffe zurück. Der Baphomet-Diener ließ ihm keine Zeit zu kontern, er drängte ihn in die Defensive.
»Gib auf, de Valois! Du hast keine Chance. Wir sind zu viele und zu stark für dich!«, rief Hemophab. Hector antwortete nicht, sondern versuchte, eine Lücke zwischen den Hieben des Gegners zu finden, um selbst einen Angriff zu landen.
Hector ließ sich jetzt etwas abdrängen, hin zu den Anderen und dem Himmelbett, hinter dem diese jetzt hervortraten und sich den Kämpfenden näherten. Aber Hector hatte mit dieser Situation taktiert und wollte sie zum Vorteil nutzen.
In den nächsten Schlag ging er hinein, parierte die Waffe und ließ sie an seiner Seite abgleiten. Ein heißer Hauch der Flammen fuhr an seinem Körper entlang und raubte ihm kurz den Atem. Dann griff er mit seiner freien Hand nach dem Schwertarm des Gegners und hebelte diesen mit einer Kraftanstrengung herum. Hector zog den Kopf ein, um nicht von der flammenden Klinge verletzt zu werden, und stieß gegen den Baphomet-Anhänger. Gleichzeitig ließ er ihn los, sodass dieser gegen seine zwei herannahenden Gefährten stieß und alle drei zurückweichen mussten. Jetzt hatte Hector etwas Platz und lief auf das Himmelbett zu.
»Gib einfach auf! Wir werden dir immer überlegen sein. Und während du schwächer und schwächer wirst, werden wir mit gleichbleibender Kraft auf dich eindringen und dir bald den Tod bringen!«, rief Hemophab erneut.
»Solange ich noch atmen kann, werde ich auch kämpfen!«, stieß Hector de Valois hervor.
»Warum bist du nur so stur? Vielleicht hätten wir dich am Leben gelassen. Aber so lässt du uns keine andere Wahl!«, sprach Hemophab weiter auf Hector de Valois ein.
Mit einem Satz war Hector auf das große Bett gesprungen. Die weiche Unterlage ließ ihn straucheln. Hector hatte etwas Abstand zu seinen Gegnern gewonnen, denen es jetzt schwerer fiel an ihn heranzukommen. Langsam aber zielgerichtet postierten sie sich um das große Himmelbett.
Den ersten Angriff blockierte er mit senkrecht nach unten gehaltener Waffe. Der Tritt an den kreuzenden Klingen vorbei traf den Angreifer in Brusthöhe und ließ ihn zurücktaumeln.
Würden sie ihn wirklich töten wollen? Oder folterten sie ihn, bis er seine Informationen Preis gab? Hector wollte es nicht darauf ankommen lassen. Lieber starb er im Kampf, als den abtrünnigen Templern zu verraten, wo er das Templergold versteckt hatte.
Er war selbst einmal Templerführer gewesen. Das war viele Jahre her. Bis er von Papst Clemens V verbannt, und von den Dienern Baphomets vertrieben worden war. Schloss Medoque war sein Rückzugsort. Doch hier hatten sie ihn nun ausfindig gemacht. Hector war immer ein Streiter des Guten gewesen und hatte sich dem Übernatürlichen gestellt. Baphomet war sein gefährlichster Gegner. De Valois war als Magier bekannt, der mit Zauberkräften gegen Dämonen kämpfte. Aber seine ganze Magie steckte in seinem Talisman, den er stets bei sich trug – ein silbernes Kreuz mit ungeahnten Kräften! Nur würde es ihm hier nichts nutzen. Die Baphomet-Anhänger waren keine Dämonen, sondern Menschen, die einem Dämon dienten. Also musste er sich auf sein Schwert verlassen.
Plötzlich hielt einer der Angreifer eine neue Waffe in den Händen: Einen Kettenflegel! An einen Holzschaft genagelte Kettenglieder, die dämonisch rot glommen und funkend aufstoben, als sie klirrend aneinanderstießen. Hector mahnte sich noch zur Vorsicht, als er im Reflex einem Schwerthieb auswich und dadurch in den bereits geführten Schlag der furchtbaren Waffe hinein lief. Die Kettenglieder wickelten sich um seine Stiefel, und ein schmerzhafter Ruck daran ließ ihn seinen Stand verlieren. Er fiel auf das Bett, wollte sich drehen und wieder aufrichten, doch da spürte er schon die heißen Flammen mehrerer Schwerter an seiner Kehle.
Jetzt ist es aus, dachte er.
Im Hintergrund lachte Hemaphob.
»Entwaffnet ihn!«, klang der kurze Befehl auf.
Hector wurde von kräftigen Armen gepackt und auf den Rücken gedreht. Dabei entwand man ihm das Schwert. Dann wurden seine Arme nach hinten gestreckt und mit harten Lederbändern an die Holzpfosten des Himmelbettes gebunden. Plötzlich bekam er Angst, Angst vor dem, was nun mit ihm geschehen würde.
Groß baute sich Hemaphob neben seinem Bett auf und schlug die Kapuze zurück. Bösen Augen blickte auf ihn nieder. In seine Mundwinkel war ein dämonisches Lächeln gekerbt.
»Was nun auf dich zukommt, hast du dir selbst zuzuschreiben, Hector de Valois!«
Der Anführer gab ein Zeichen an eine hinter ihm stehende Person, die sogleich näher trat. Dabei griff sie unter ihre Kutte und holte einen metallenen, länglichen Gegenstand hervor – ein Würgeeisen! Mit der anderen Hand schlug sie die Kapuze zurück. Hector schluckte, seine Kehle wurde eng. Er wusste nicht, was ihn mehr erschütterte, das Mordinstrument oder die Person, die jetzt neben dem Himmelbett stand. Leise drang ein Hauch über seine Lippen, der die Überraschung und die Verbitterung widerspiegelte:
»Manon?!«
»Du hast mich erkannt, Bruder?«. Die Stimme der Frau war leise und hatte einen bösen Unterton.
»Was ... warum ...?« Hector bekam kein Wort mehr heraus. Er verstand nicht, was da gerade geschah. Vor ihm stand seine Schwester Manon und hielt ein Würgeeisen in Händen.
»Nimm die Überraschung mit in dein Grab, Hector. Nur soviel will ich dir sagen: Baphomet kann mir mehr bieten, als ich es hier, bei dir oder irgendwo auf der Welt erhalten kann!« Ihre Lippen hatte sie zu einem breiten Grinsen verzogen.
Tränen rannen aus Hectors Augen. Sein Widerstand war erlahmt. Der Schock, dass seine Schwester zu den Dienern Baphomets zählte, traf ihn hart.
»Töte ihn, Manon! Töte Hector de Valois, deinen Bruder!« Triumph schwang in Hemaphobs Stimme mit und Hector wusste, dass seine letzten Minuten angebrochen waren.
Hector bemerkte den vertrauten Druck seines Kreuzes auf der Brust. Es konnte ihn nicht vor dem Tod retten. Jetzt nicht mehr.
Manon hob das Würgeeisen an und legte es um den Hals ihres Bruders. Hector spürte die Kälte des Metalls und seine Angst steigerte sich.
»Warum ...?«, krächzte er noch, als Manon erbarmungslos zudrückte und seine Luft knapp wurde.
Sie stand über ihn gebeugt und drückte die beiden Griffe wie bei einer Zange zusammen. Dadurch presste sich das Metall erbarmungslos enger um die Kehle des Kämpfers. Hector versuchte, diesem Griff zu entkommen, aber er schaffte es seiner Fesseln wegen nicht. Der Druck in seinem Kopf nahm durch den fehlenden Sauerstoff zu. Sein Herz schlug schneller, um die Lebensluft ins Gehirn zu bringen. Ihm wurde schwindelig und der Blick trübte sich. Die Angst steigerte sich in blanke Panik. Kein Schrei drang aus seiner zugeschnürten Kehle. Sein Körper zuckte im Todeskampf hin und her, bis seine Bewegungen plötzlich langsamer wurden und er das Bewusstsein verlor. Manon wartete noch und löste dann das Eisen von seinem Hals.
Plötzlich sah Hemaphob auf und wirkte verwirrt. Etwas hatte sich verändert. Sie waren nicht mehr alleine! Er wollte sich seine Unsicherheit nicht anmerken lassen und nickte Manon zu. Dann gab er seinen Getreuen ein Zeichen den getöteten Vasallen aufzunehmen und schnellstmöglich das Schlafgemach und die Burg zu verlassen.
Zurück blieb ein Toter, der mit starrem Blick zum Baldachin des Himmelbettes sah. Und ein heimlicher Beobachter, der sich in den Schatten des Raumes verborgen hielt.
Shachaar, der Jäger aus dem Schattenreich und Diener des Spuks, wurde vom schwarzen Nebel seines Herrn erfasst und fortgerissen. Die Stimme des Spuks hallte noch in seinem Kopf wider:
»Bring mir die Seele von Hector de Valois!«
Nach unendlichen Qualen der Bestrafung, herbeigeführt durch Shachaars Verrat am Spuk, hatte dieser ihn auf seine Seite gezogen. Shachaars Stärke imponierte dem Herrn der Schatten und er ließ ihn wählen: Entweder er arbeitete seine Schuld ab oder er würde weitere Qualen erleiden. Die Entscheidung war Shachaar leicht gefallen, und so stand er seitdem auf der Seite des Spuks.
Kurz zuvor hatte die magische Reise im schwarzen Nebel sein Ende in diesem Gemach gefunden. Jetzt stand Shachaar unbeweglich in den Schatten des Raumes. Die dunkle Kapuze tief ins Gesicht gezogen, hatte er mit seinen schwarzen Augen die letzten Szenen beobachtet.
Shachaar spürte widersprüchliche Schwingungen auf sich eindringen. Einerseits bemerkte er eine böse, dämonische Präsenz, doch gleichzeitig nahm er auch eine alte, vergessene Aura wahr, die ihm vor sehr langer Zeit einmal nah gewesen sein musste. Er biss die Zähne aufeinander und die Wangenmuskeln zuckten an seinem haarlosen Schädel. Eine Narbe auf der linken Wange, ein Andenken an seinen ersten Kampf für den Spuk, zog sich bis zu seinem Kinn und gab ihm ein unheimliches Aussehen.
Der Raum wurde von einem großen Himmelbett dominiert, auf dem sein Blick ruhte. Zerbrochenes und angesengtes Holz, welches zuvor einmal die Eichenholztüre gewesen sein mochte, lag auf dem Boden verteilt.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Shachaar, wie die letzte der dunkel gekleideten Gestalten durch die zerstörte Zimmertüre verschwand – und mit ihr das dämonische Fluidum.
Sein Blick blieb weiterhin auf das Bett gerichtet in dem ein Toter lag. Die Arme gespreizt an zwei Holzpfosten gefesselt und den Blick starr nach oben gerichtet. Von dieser Gestalt ging das angenehme Gefühl aus, welches er weiterhin spürte.
Shachaar sah kurz zur zerstörten Türe, doch die Mörder des Mannes kamen nicht zurück. Er näherte sich dem Bett und sah sich den Toten genauer an. Er war eine große Gestalt mit langen, dunklen Haaren und einem Knebelbart. Die dunkelbraunen Augen starrten an ihm vorbei. Shachaar glaubte, einen verzweifelten Ausdruck darin zu erkennen. Wenn er den Spuk richtig verstanden hatte, musste das Hector de Valois sein. Der Mann, dessen Seele der Spuk haben wollte. Shachaar selber kannte den Mann nicht, doch dieses unerklärliche Gefühl machte ihm den Mann vertraut. Er fühlte sich sicher, er fühlte sich behütet.
Warum wollte der Spuk unbedingt diese Seele? Wo er doch hauptsächlich jene der abtrünnigen Dämonen aufgenommen hatte? Und warum nahm er sie sich nicht einfach? Hector de Valois war doch tot. Viele Fragen, auf die er keine Antwort wusste.
Die Kleidung des Toten wies auf einen wohlhabenden Mann hin. Das Schwert neben dem Bett ließ auf einen Kämpfer schließen. Das Gefühl der Geborgenheit war nun so übermächtig, dass es ihn verwirrte. Seine Blicke flogen an der toten Gestalt entlang, um Hinweise zu bekommen, was dieses Gefühl in ihm auslöste.
Am Hals des Toten fiel Shachaar eine silberne Kette auf. An ihr musste etwas hängen, was diese geradezu magische Anziehung auf ihn ausübte. Der Anhänger lag unter dem Wams verborgen. Vorsichtig näherten sich seine Finger der Kette. Ein warmer Schauer durchlief seine Hand, als er das Halsband berührte. Behutsam hielt er sie zwischen seinen Fingern und vernahm das leise Klirren, als er daran zog. Stück für Stück legte er den verborgenen Anhänger frei.
Shachaars schwarze Augen weiteten sich. Er konnte nicht glauben, was er zu sehen bekam. Unter dem Wams kam ein silbernes Kreuz zum Vorschein! Plötzlich stürzten die Erinnerungen auf ihn ein. Er sah seinen toten König vor sich auf der Pritsche liegen. Richard Löwenherz, auf seiner Brust ebenso das Kreuz, wie hier bei Hector de Valois. Es gab keinen Zweifel, das Kreuz war identisch! Damals hatte er es seinem toten König gelassen, um dessen Seele vor dem Spuk zu schützen!
»Du erinnerst dich, Shachaar!«, vernahm er die gehauchte Stimme des Spuks.
Es war lange her. Nach den Qualen im Folterkeller des Spuks hatte er es verdrängt. Aber ja, er wusste es wieder! Und jetzt wusste er auch, warum er hier war. Er sollte wieder einmal das Kreuz an sich nehmen, um für den Spuk die Seele dieses Toten freizugeben!
Das wohlige Gefühl der Geborgenheit wurde von Selbstzweifeln und Zerrissenheit überschattet. Shachaar durchliefen erneut widersprüchliche Empfindungen. Damals war es der Zwiespalt zwischen dem Pakt mit dem Spuk und dem Versprechen, welches er seinem König gegeben hatte. Hier war es anders. Er war jetzt ein Diener des Spuks und sollte ihm treu ergeben sein. Diesem Toten gegenüber verspürte er keinerlei Verpflichtungen. Anders als dem Kreuz gegenüber ...
»Jetzt kannst du deine Loyalität beweisen, Shachaar! Nimm das Kreuz an dich und lass mir die Seele des Kreuzträgers!« Die Stimme des Spuks war fordernder geworden.
Shachaar glaubte, die Stimme seines toten Königs zu hören: »Du erhältst mein wertvollstes Geschenk, das silberne Kreuz! Achte darauf, dass es nicht in falsche Hände gerät. Vielleicht wirst du in deinem Leben auf einen weiteren Träger treffen. Dann ist es Zeit, es abzugeben. Du wirst merken, wenn es soweit ist. Aber bis dahin beschütze es mit deinem Leben, so wie du mein Leben beschützt hast. Gelobe es!«
Er hatte es geschworen. Vor gut 120 Jahren. Doch damals hatte er versagt. Jetzt hatte ihn sein Weg abermals zu dem Kreuz geführt. Obwohl Shachaar um die Tödlichkeit des Talismans gegenüber Dämonen wusste, verspürte er keine Angst. Er war kein Mensch mehr. Er war ein Dämon, aber trotzdem war er etwas anderes.
Seine Hände griffen nach dem magischen Kleinod, berührten es sanft und nahmen es von Hectors Brust. Das Kribbeln in seinem Körper verstärkte sich, als er sachte die Kette über den Kopf des Toten zog.
»So ist es gut! Bereite mir die Seele vor!«
Das Kreuz sandte Wärme aus und Shachaar spürte, dass es sich gegen ihn wehrte. Sein sicheres Gefühl stand dem plötzlichen Schein und der ansteigenden Wärme des Kreuzes entgegen. Während das Kribbeln zu einem aushaltbaren Schmerz anwuchs, manifestierte sich der Spuk auf der anderen Seite des Himmelbettes.
Shachaars Mund war zu einem Stöhnen aufgerissen. Seine schwarzen Augen starrten auf das Kreuz. Hell leuchtete es ihm entgegen, als wolle es ihn vertreiben. Plötzlich blitzte das Kreuzes auf. Silberne Strahlen trafen Shachaar in die Brust. Er schrie auf und seine Augen verloren plötzlich das tiefe Schwarz – und wurden weiß! Sein Schrei erstarb, der Schein des Kreuzes brach zusammen und nun lag es angenehm warm in seinen Händen.
Während sich der Spuk langsam auf den toten Hector de Valois senkte, durchströmte Shachaar ein gutes Gefühl. Dem Spuk hatte er sein Leben zu verdanken, aber er hatte es ihm damals auch genommen. Er war ihm also nichts schuldig!
Shachaar fühlte sich mächtig, denn er hatte dem Kreuz widerstanden. Nein, er hatte sich mit dem Kreuz verbunden! Er besaß die Waffe seines Königs, welche der Spuk ebenso fürchtete, wie die meisten Dämonen.
Der Spuk schien bemerkt zu haben, dass sich etwas verändert hatte. Die Wolke begann unruhig über dem Toten zu schweben.
»Du willst doch nicht den gleichen Fehler erneut begehen, der dir bereits vor so langer Zeit nur Qualen gebracht hat!«, sprach der Dämon seinen Diener an. »Das wäre töricht von dir! Diesmal werde ich keine Gnade kennen! Wenn du dich gegen mich stellst, töte ich dich!«
»Wenn du es vermagst, Spuk!«, entgegnete Shachaar mutig. Er hatte erneut eine Entscheidung getroffen. Gegen seinen Peiniger und Lebensretter, den Spuk. Und diesmal würde er nicht versagen.
»Nein!«, schrie dieser. Er hatte die Wandlung Shachaars mitbekommen. »Du bist ein Verräter! Dafür wirst du tausend Tode sterben!«
Die schwarze Wolke stob auf und wirbelte in Richtung Shachaar. Der hielt seine neu erworbene Waffe nach vorne, die wieder anfing zu leuchten. Shachaar warf sich dem Spuk entgegen und der lauter Schrei des Dämons durchfuhr Schloss Medoque. Dann löste sich die schwarze Wolke ebenso schnell auf, wie sie sich manifestiert hatte.
Shachaar war alleine. Alleine mit dem Kreuz und dem Toten auf dem Himmelbett. Zuerst löste er dessen Fesseln, dann schloss er ihm die Augen. Ein innerer Drang verleitete Shachaar dazu, das Kreuz auf Hectors Brust zu legen. Plötzlich leuchtete der gesamte Körper de Valois silbern auf, wurde durchscheinend und Shachaar konnte das Skelett des Mannes durch dessen Haut schimmern sehen. Dann verschwand der Anblick wieder, ließ aber einen silbrigen Schein über dem gesamten Körper zurück.
Shachaar nahm das Kreuz wieder an sich und hängte es sich um den Hals. Mit seinen weißen Augen beobachtete er, dass der Schein weiterhin über dem Toten lag. Seine Aufgabe hier war getan und Shachaar trat zwei Schritte vom Himmelbett zurück.
Wiederum leuchtete das Kreuz vor seiner Brust auf, diesmal so hell, dass seine Gestalt nicht mehr sichtbar war. Als der Schein zusammen fiel, war Shachaar mitsamt dem Kreuz verschwunden.
ENDE