Meine vierte John-Sinclair-Kurzgeschichte wurde im John Sinclair Roman 2245 ,Der Totengräber aus Atlantis‘ als Leser-Kurzgeschichte veröffentlicht.
Sie ist der zweite Teil der Shachaar-Chroniken.
Zeitlos
Zweiter Teil der Shachaar-Chroniken
2021 © Alexander Weisheit
(weisheit(at)weisheitsperlen.de)
Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Er zählte sein Leben nicht in Stunden, Tagen oder Wochen. Schmerz und Qual waren die Maßstäbe, an denen er sich orientierte. Er lag nackt und zitternd auf nassem, faulenden Stroh. Die Kälte spürte er ebenso, wie Hitze und Schmerzen. Sein Körper war mit Narben übersät, die bleiche Haut überspannte die Knochen und ließen ihn fast wie ein Skelett erscheinen. Sein Körper war gleichermaßen haarlos wie der Schädel, nur die schwarzen Augen deuteten darauf hin, dass er kein Mensch war.
Wer war er eigentlich? Seine Vergangenheit lag so weit zurück, dass er weder wusste, wer er war, noch woher er kam. Selbst seinen Namen hatte er unter der regelmäßigen Pein vergessen. Er war ein Gefangener und zahlte diesen hohen Preis für sein Vergehen. Immer wieder hatte der Spuk es ihm gesagt: Er hatte einen Pakt gebrochen und würde bis in alle Ewigkeit dafür leiden müssen!
Sein Verlies war nahezu in Finsternis getaucht. Mit halb geschlossenen Augen erkannte er schemenhaft das dunkle Gestein und die tief hängende Decke. Hoch genug, dass er sich hätte aufrichten können, aber ebendies tat er schon längst nicht mehr. Meist lag er auf dem Stroh, zitterte und wartete. Wartete auf seine Peiniger, die durch die geöffnete Gefängnistüre in gleißendem Licht seinen Raum betraten. Das Licht bedeutete für ihn Schmerzen. Dies war das einzig wiederkehrende, auf das er sich verlassen konnte.
Auch jetzt hörte er die Geräusche von außerhalb des Kerkers: Schritte und dazwischen das Klirren von Ketten. Es war wieder so weit!
Quietschend öffnete sich die schwere, metallbeschlagene Holztüre; sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Verlies zu verschließen. Gleißendes Licht fiel herein und riss das marode, schwarze Gestein der Wände und das schmutzige Stroh, auf dem er lag, aus dem Dunkel. Eine unmenschliche Umgebung, aus der sogar die Ratten flohen, um Schutz zwischen den modernden Strohhalmen zu finden.
Die Helligkeit schmerzte in seinen schwarzen Augen, die er schnell schloss. Die Schritte näherten sich seinem Lager. Er wusste, dass es echsenähnliche Kreaturen waren, die sein Verlies betraten; die Diener des Spuks! Bewaffnet mit Lanzen und eisernen Ketten, die bei jeder Bewegung klirrend aneinanderschlugen.
Dann spürte er die schuppige Hand des Echsendieners, die ihn jäh vom Stroh hochriss. Er stöhnte auf, bewegte sich jedoch nicht. Er hatte es aufgegeben sich zu wehren. Nicht, dass es die Folter angenehmer gemacht hätte, aber es brachte einfach nichts. Er war das Opfer.
Kühl schlossen sich die Schellen der Ketten um seine Handgelenke. Die Enden wurden jeweils links und rechts durch Ringe an der Wand gezogen und dort befestigt. Als sie ihn losließen, sackte er in sich zusammen, und nur die nach oben gezogenen Arme verhinderten, dass er zu Boden fiel. Sofort schoss der Schmerz von seinen geschundenen Handgelenken über die Schultern bis in seinen Körper. Sein Kopf hing auf der Brust, und doch öffnete er langsam die Augen, um zu sehen, was um ihn herum geschah.
Zwei der Echsendiener hatten sich seitlich von ihm positioniert und hielten ihn mit den Lanzen in Schach. Als wenn er eine Chance gegen sie gehabt hätte ... Der Dritte stand direkt vor ihm, und sein Schattenriss zeichnete sich deutlich vom Licht der offenen Türe ab. Er hielt etwas in den Händen, das er nicht sehen konnte. Aber er wusste, was es war: Eine lange, schmale, vorne nadelspitz zulaufende Klinge: Das Folterinstrument!
Seine Qualen begannen mit kleinen Einschnitten an Armen und Oberkörper. Dort, wo die scharfe Waffe traf, klaffte die Haut auseinander. Er blutete nicht, aber er schrie die Schmerzen hinaus. Sie zu unterdrücken hatte er ebenfalls längst aufgegeben.
Die Schnittwunden wurden tiefer und länger, und seine Schreie wurden lauter und schmerzerfüllter. Sein Gesicht ließen sie bei der Folter aus, doch sein eingefallenes Antlitz zeigte deutlich die Spuren des Martyriums.
Wie lange eigentlich schon? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es auf ewig so weiter gehen sollte, wenn es nach dem Spuk ging. Wieder schoss ein stechender Schmerz durch seinen Körper und lenkte ihn von den Gedanken ab. Er schrie auf, sein Körper schien in Flammen zu stehen und er spürte nur noch brennende Schmerzen.
Irgendwann öffneten seine Peiniger die Ketten. Er stürzte zu Boden, während seine Schinder den Raum verließen. Dunkelheit schlug über ihm zusammen, als sie die Tür hinter sich zuschlugen. Er blieb zitternd auf dem dreckigen Boden liegen. Es würde dauern, bis er sich erholte und die Wunden langsam regenerierten.
Und dann würden sie wiederkommen, um ihn erneut zu foltern und zu quälen. Das also war sein Schicksal ...
Irgendwann erwachte er aus seiner Lethargie und spürte, dass sich etwas verändert hatte. Sein geschundener Leib zitterte nicht mehr und die blutverkrusteten Finger ertasteten eine über ihm ausgebreitete Decke, die ihn jedoch nicht vollständig wärmte. Er war verwirrt über die Zuwendungen, die ihm zuteilwurden.
Vorsichtig richtete er sich auf und bemerkte eine Stärke, wie schon lange nicht mehr. Er sah an sich herab und erkannte, dass seine Wunden zum größten Teil verheilt waren. Hatte ihn jemand versorgt? Was für ein neues, perfides Spiel trieben sie jetzt mit ihm?
Seine schwarzen Augen durchdrangen die Dunkelheit, die an verschiedenen Stellen Schatten warf. Kalter, schwarzer Nebel zog unruhig vor ihm hin und her, und in der Schwärze schwebten zwei rot glühende Augen.
Der Spuk war gekommen!
»Du bist stark, Shachaar!«, drang die tiefe Stimme des Spuks flüsternd an seine Ohren. Shachaar? War das sein Name? Etwas regte sich tief in seinem Inneren. Er antwortete nicht.
»Andere sind bereits durch geringere Folter gestorben! Aber du bist stark!«
Wollte der Spuk ihn verhöhnen? Ihm klar machen, dass die Folter weiter ging?
»Erinnerst du dich an unseren Pakt?«
Shachaar erinnerte sich nicht.
»Du hast unser Abkommen gebrochen!«, wurde die Stimme seines Gegenübers lauter. »Die Liebe zu deinem König war größer, als der Wunsch, dass ich dir helfe!«
Von welchem König sprach der Spuk? Jetzt fingen Shachaars Gedanken doch an zu rotieren.
»Und diese Liebe scheint dich immer noch stark zu machen! Du gibst nicht auf, nimmst alle Qualen auf dich!«
Shachaar hatte sich oft gewünscht, tot zu sein. Aber er starb nicht. Er war nicht abgestumpft, was die Schmerzen betraf. Er hatte nur alles, was geschehen war, vergessen.
»Du hättest einzig das silberne Kreuz an dich nehmen müssen, und alles wäre gut gewesen!«
Wie ein silberner Blitz durchzuckte ein heller Schemen sein Unterbewusstsein. Ein silbernes Kreuz? Das Zeichen eines Glaubens, das Zeichen des Guten. Was hatte er damit zu tun?
Er spürte, dass diese Bilder etwas in ihm auslösten, doch er konnte sie noch nicht sortieren und begreifen.
»Wenn du wirklich so stark bist, wie du dich gibst, kannst du für mich von großer Bedeutung sein! Ich könnte dich gebrauchen! Was meinst du dazu?«
Shachaar meinte gar nichts. Er begriff nicht, was der Spuk ihm mitteilen wollte. Wie sollte er ihm helfen? Was wollte er von ihm?
»Ich gebe dir etwas Bedenkzeit und komme bald wieder!«
Dann verschwand der Spuk und ließ Shachaar in seiner dunklen Zelle alleine mit seinen Gedanken.
Stück für Stück setzte sich das Puzzle in Shachaars Kopf zusammen. Je länger er nachdachte, desto mehr Erinnerungen tauchten aus seinem Unterbewusstsein auf und verdichteten sich zu einem Ganzen.
Er hatte König Richard Löwenherz gedient, war sein Freund gewesen, hatte ihm treu zur Seite gestanden und alles für ihn erreichen wollen. Dabei hatte Shachaar sich auch mit dem Spuk eingelassen. Mehrere Male. Das letzte Bündnis hatte er jedoch nicht gehalten. Für die Eroberung einer Burg hatte Shachaar dem Spuk die Seele seines Herrschers versprochen. Als Richards Tod während der Eroberung eintrat, fühlte sich Shachaar betrogen. Er hatte im letzten Moment das silberne Kreuz, Richards Talisman, auf dessen Brust liegen gelassen, und ihn somit vor dem Herrn der Schatten geschützt.
Im Zorn hatte der Spuk Shachaar mitgenommen und ihn zu einem immerwährenden Leben voller Schmerzen und Qualen verdammt.
Wie viel Zeit seit dem Tode König Richards‘ vergangen war, vermochte Shachaar nicht zu sagen. Es spielte auch keine Rolle mehr für ihn. Sein König war tot, das Kreuz unerreichbar und für ihn ergab sich nun vielleicht die Chance, den Qualen zu entfliehen. Der Spuk hatte etwas mit ihm vor.
Shachaar trug eine schwarze, weitgeschnittene Robe mit einer großen Kapuze und einem Gürtel. Dazu hatte er weitere Decken erhalten, um sich warm zu halten. Immer wieder gab es einen Trunk, der ihn weiter zu Kräften kommen ließ.
Wie erwartet manifestierte sich der Spuk in einer dunklen, amorphen Wolke in Shachaars‘ Verlies. Nur die rot glühenden Augen und die Kälte zeugten von seiner Präsenz.
»Hast du über meine Worte nachgedacht?«
Shachaar hob den Kopf und blickte mit seinen schwarzen Augen auf den Dämon.
»Was muss ich tun?« Seine Stimme klag rau und kratzig. Er hatte lange nicht mehr gesprochen. Nur geschrien.
Ein leises Lachen war zu vernehmen und die Luft wurde eine Spur kälter.
»Du wirst für mich abtrünnige Dämonen, die es sich erlaubt haben, sich mir zu widersetzen, auffinden und töten!«
Die Worte klangen in Shachaars Kopf wider. Er sollte Dämonen töten? So ähnlich hatte er es damals mit seinem König auch getan. Auf ihren langen Reisen waren ihnen einige unheimliche Gestalten begegnet, denen sie sich mit Schwert, Kreuz und Glauben entgegengestellt hatten.
»Was sagst du? Oder möchtest du lieber hier in deinem Verlies bleiben?«
Shachaar brauchte gar nicht lange zu überlegen. Es war kein Pakt, den er mit dem Spuk schloss. Shachaar hatte einfach keine andere Wahl. Entweder er stellte sich auf die Seite des Spuks‘, oder er würde weiterhin unsägliche Qualen erleiden, bis der Tod ihn erlöste.
»Ich stelle mich auf deine Seite!«
»Das hatte ich gehofft! Eine gute Entscheidung, von der wir beide profitieren können! Denk daran, du stehst immer noch in meiner Schuld! Ab jetzt werde ich dich jedoch nicht mehr quälen, um dich zu bestrafen, sondern du wirst mir dienen!«
Shachaar nickte, und er wusste, dass es die richtige Entscheidung war. Er spürte, dass er jetzt viel kräftiger war und mehr Fähigkeiten besaß, als in seinem ersten Leben.
Plötzlich blitze etwas in der Schwärze auf.
»Dies ist für dich, damit du deine Aufgaben erfüllen kannst!«, sprach der Spuk ihn an.
Eine silberne Klinge schälte sich aus dem schwarzen Nebel. Scharf und zum Ende hin spitz zulaufend, wie eine Nadel. Es war die Klinge, mit der er gefoltert worden war!
Shachaar stockte der Atem, dann aber hob er die Hand und griff nach der Waffe. Er betrachtete sie von allen Seiten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Schneide in Händen zu halten, die seinen Körper geschändet hatte.
»Und was soll meine erste Aufgabe sein?«
»Finde Ukassa, und töte sie!«
Der Spuk hatte ihn umhüllt und mit auf eine magische Reise genommen. Als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, befand er sich nicht mehr in seinem Verlies. Es war dunkel, rechts und links erhoben sich die Mauern von angrenzenden Gebäuden. Die Sterne am Himmel waren kaum zu sehen, denn die Regenwolken hingen zu tief. Der Mond blitze als schmale Sichel zwischen den Wolken auf und trug kaum zur Beleuchtung bei.
Und doch erkannte Shachaar alles. Er brauchte kein Licht, um mit seinen schwarzen Augen zu sehen. Er fühlte sich gut, besser als in letzter Zeit. Er spürte seine Umwelt und nahm alles viel intensiver wahr.
Die Luft kam ihm so rein vor, er spürte den Wind auf der Haut, konnte im Dunkeln sehen, roch die unterschiedlichsten Gerüche und hörte vielerlei Geräusche. Die Welt war nicht so, wie er sie kannte. Oder lag es eher an ihm?
Es dauerte etwas, bis er alle neuen Eindrücke verarbeitet hatte. Seine Gedanken schweiften zum Auftrag des Spuks‘. Er wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen, um ihm nicht die Gelegenheit zu geben, ihn wieder in Ketten zu werfen. Entschlossen schob er die Klinge in den Gürtel seines Gewandes, zog die Kapuze tief ins Gesicht und ging die Gasse entlang.
Plötzlich hörte er Geräusche. Sie schienen vom Ende der Gasse an seine Ohren zu dringen. Leise und in die Schatten der Mauern gedrückt schlich er weiter. Shachaar erkannte die Stimmen einer Frau und eines Mannes, die beide abwechselnd stöhnten. Jetzt nahm er sogar ihre Gerüche wahr: Schweiß, Speichel und andere Körperflüssigkeiten vereinigten sich zu einem wahren Geruchskonglomerat. Außerdem spürte er die Lust und die Wildheit des Mannes; auch die der Frau, aber sie war ganz anders ...
Als Shachaar noch zwei Schritte weiter schlich, sah er das Pärchen. Er fühlte keine Scham oder machte sich Gedanken darüber, dass er sie stören könnte. An der Hauswand standen einige Holzkisten aufgestapelt. Darauf hatte sich eine rothaarige, leicht anzüglich gekleidete Frau gesetzt. Ihre halb durchsichtige Bluse war geöffnet und unter dem rüschenbesetzen Rock hatte sie lasziv die Beine gespreizt. Ein kleiner, etwas untersetzter Mann stand mit herunter gelassener Hose und unrythmischen Bewegungen vor ihr. Sie hatte ihre Arme um seinen Hals gelegt, den Kopf etwas nach hinten geworfen und stöhnte unter seinen Bewegungen.
Sie spielt nur mit ihm, bemerkte Shachaar sofort. Sie war die Spinne und hatte den Mann in ihr Netz gelockt! Einen Moment beobachtete Shachaar die Rothaarige. Sie hielt die Augen offen, blickte auf ihren Liebhaber und fixierte seinen ... Hals?
Schweiß hatte sich auf dem Körper des Mannes gebildet, und jede Bewegung steigerte seine Erregung dem Höhepunkt entgegen. Die Rothaarige öffnete langsam ihre roten Lippen, die im Gegensatz zu ihrer blassen Haut auffielen. Daraus hervor, stachen sichtbar zwei spitze Vampirzähne!
Noch bevor die Vampirin zubeißen konnte, schritt Shachaar ein. Er löste sich aus dem Schatten der Hauswand und eilte auf das ungleiche Paar zu.
Der untersetzte Mann stöhnte lauter und seine Bewegungen wurden schneller. Er bemerkte Shachaar nicht. Die Rothaarige aber wurde auf ihn aufmerksam, und ihr Kopf ruckte in Shachaars‘ Richtung.
Jetzt riss sie den Mund ganz weit auf und präsentierte die langen, spitzen Zähne. Sie fauchte wie eine wilde Katze. Ihr Freier war plötzlich abgelenkt, weil seine Gespielin sich anders bewegte, als er es gebraucht hätte.
»Mach weiter, Weib!«, zitterte seine Stimme.
Doch die Vampirin stieß ihn so kraftvoll zurück, dass er taumelte. Seine herunter gelassene Hose hinderte ihn an einem Ausfallschritt und ließ ihn hart auf den Steinboden plumpsen.
»He! Was soll das?«, schrie er wütend auf.
Ukassa, denn um sie musste es sich bei der Vampirin einfach handeln, erhob sich geschmeidig von den Kisten. Ihr Rock fiel nach unten und bedeckte ihre Blöße, doch die nackten Brüste schauten aus der auseinandergerissenen Bluse hervor.
»Wer bist du?«, fauchte sie Shachaar an.
Dieser warf einen kurzen Blick auf den auf dem Boden liegenden Mann, der aus glänzenden Augen und mit hochrotem Gesicht auf die beiden Personen vor sich starrte. Er griff sich zwischen die Beine, als würde er dort Schmerzen leiden.
»Ich bin Shachaar, der Jäger des Spuks!«, wand er sich wieder an Ukassa. Bei diesen Worten wollte er den Dolch aus dem Gürtel ziehen, doch Ukassa ließ ihn nicht so weit kommen.
Aus dem Stand machte sie einen Satz auf Shachaar zu, stieß mit unheimlicher Wucht gegen ihn und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er stürzte nach hinten und spürte die Schmerzen durch seinen Körper rasen. Sofort zog er die Hände vor sich und hielt so den zweiten Angriff der Vampirin auf. Sie stieß den Kopf nach vorne, um ihm die Zähne in den Hals zu schlagen. Ukassa hatte unheimliche Kräfte, denen ein Mensch hoffnungslos unterlegen wäre. Aber Shachaar war kein Mensch mehr. Und doch musste er sich anstrengen, um ihr nicht ausgeliefert zu sein.
Ukassa schlug mit den Händen nach ihm und erwischte mit den Krallen sein Gesicht. Ein tiefer Kratzer zog sich über seine linke Wange, und auch diesen Schmerz spürte er. Während der ganzen Zeit der Folter hatten die Peiniger sein Gesicht verschont. Doch jetzt, beim ersten Kampf, bekam er sofort ein Andenken in Form eines langen Kratzers auf der linken Wange.
Wütend sammelte Shachaar seine Kräfte und stieß die Untote von sich. Sein Körper explodierte förmlich, als er die Hände nach vorne schlug. Wie eine Puppe flog Ukassa zurück und landete krachend in dem Kistenstapel, der sie unter sich begrub.
Shachaar richtete sich zügig auf und fuhr mit den Fingern über die Wunde – kein Blut, aber er spürte die Schramme. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich Ukassas‘ Opfer die Hose hochzog und stolpernd davonstahl. Ein Problem weniger, dachte Shachaar.
Während Ukassa sich aus den Kisten befreite, hatte Shachaar die Zeit, endlich seinen Dolch zu ziehen. Mit zeternder Stimme bewegte sie sich zwischen dem Holz, um plötzlich mit ebensolchem Schwung, wie Shachaar sie in die Kisten befördert hatte, wieder aus ihnen hervor zu schießen. Und Ukassa griff sofort wieder an.
Wie ein Wirbelwind versuchte sie erneut, ihre Krallen als Waffe gegen Shachaar einzusetzen, doch dieser wich geschickt aus und schlug ihre Hände beiseite. In wenigen Momenten spürte er seine Stärke und bemerkte, dass er der Vampirin überlegen war. Und er fühlte, dass ihn dieser Kampf anstachelte.
Spielend wehrte er die Angriffe der Vampirin ab. Einen Hieb nach dem anderen schlug er zur Seite. Er hätte sogar schon durch die geöffnete Deckung einen Dolchstoß anbringen können, doch das tat er nicht. Er ließ sich ganz auf die Attacken der Gegnerin ein und studierte sie. Er erkannte ihre Bewegungen und konnte sogar den nächsten Angriff vorhersagen.
Ukassa schrie immer wilder und drang weiter auf Shachaar ein. Auch, wenn die Vampirin ihm nicht gefährlich werden konnte, wollte er seine Aufgabe jetzt zu Ende bringen.
Den nächsten Schlag fing er ab und hielt die Klaue der Vampirin fest. Ihrem weiteren Vorstoß wich er aus, drehte sich unter dem fixierten Arm hindurch in ihren Rücken, und stieß im gleichen Moment den Dolch von hinten in ihr Herz.
Sofort erstarben Ukassas‘ Bewegungen. Stocksteif blieb sie stehen. Shachaar ließ den Arm los und hielt den Dolch fest, der sich aus dem Körper der Untoten zog, als diese zu Boden fiel und sich vor seinen Augen auflöste.
Shachaar spürte keine Erschöpfung, sein Atem ging nicht schneller als sonst. Er spürte nur die Kälte, die sich um ihn herum bildete, während sich der Spuk materialisierte.
»Ich bin beeindruckt!«, hörte Shachaar die tiefe Stimme des Spuks. »Und jetzt sieh zu!«
Shachaar wusste nicht genau, wo er hinsehen sollte. Aber er bemerkte die Bewegung vor sich auf dem Boden. Aus der Asche der toten Vampirin erhob sich schwarzer Nebel, der sich auf den Spuk zubewegte, um sich mit dessen Schleier zu vereinen.
»Ich bekomme ihre Seelen!«, tönte die Stimme wieder. »Und du wirst sie mir fortan bringen, Shachaar, Jäger aus dem Schattenreich!«
Shachaar hatte sich in seinen Bereich zurückgezogen. Schon einige Zeit lebte er nicht mehr in dem Verlies, in welches ihn der Spuk seinerzeit gesteckt hatte. Er genoss einige Annehmlichkeiten, hatte ein Bett, eigene Räume und konnte sich darin frei bewegen. Bis ihn sein Herr wieder zu sich rief.
Dies hatte der Spuk schon mehrere Male getan, und immer hatte sich Shachaar wohl dabei gefühlt. Er merkte, dass ihn diese Aufgaben erfüllten. Es war allemal besser, als in dem Verlies dahin zu vegetieren und Schmerzen zu erleiden.
Shachaar ruhte auf seinem Bett und ließ seinen Gedanken freien lauf, als er bemerkte, das der Spuk erschien.
»Ich bin sehr zufrieden mit dir, Shachaar! Wie ich vermutet habe, bist du der Richtige für eine solche Aufgabe! Ich habe mich nicht in dir getäuscht!«
Shachaar setzte sich auf sein Bett und drehte den Dolch spielerisch zwischen den Fingern.
»Ich habe eine neue, ganz spezielle Aufgabe, für dich!«
»Was soll ich diesmal für dich tun?«, fragte Shachaar.
Der schwarze Nebel wallte, und die rot glühenden Augen schwebten vor ihm.
»Diese Aufgabe wird einiges von dir abverlangen! Diesmal kannst du beweisen, das du würdig bist, auf meiner Seite zu stehen! Beweise mir, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe!« Die Stimme des Dämons drang tief in ihn ein.
»Ich bin bereit!«, bestätigte Shachaar.
»Dann komm mit und bringe mir die Seele von Hector de Valois!«
Der schwarze Nebel umhüllte Shachaar und von einem auf den anderen Augenblick waren er und der Spuk verschwunden.
ENDE