Meine zweite John-Sinclair-Kurzgeschichte wurde im John Sinclair Roman 2163 ,Assungas Hexenpuppen‘ als Leser-Kurzgeschichte veröffentlicht.
Schöner Schrecken
2019 © Alexander Weisheit
(weisheit(at)weisheitsperlen.de)
Ich hatte keine Ahnung, warum ich an diesem Morgen so früh wach wurde. Kurz vor fünf schlug ich die Augen auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ich drehte mich nochmals um, doch ich schlief nicht wieder ein. Also stand ich auf und machte mich fertig, um zum Yard zu fahren. Dort konnte ich noch ein paar liegengeblieben Akten erledigen oder ältere Fälle aufarbeiten. Irgendwas gab es immer zu tun.
Als ich aus der Dusche stieg, entschied ich mich spontan dazu, mal wieder eine Runde joggen zu gehen. Das hatte ich länger nicht mehr gemacht und es würde mir sicherlich gut tun. Mit gepackter Sporttasche, und einer Nachricht an Suko, die ich unter seine Wohnungstüre schob, machte ich mich auf in Richtung Yard.
Es war Mitte Dezember, eiskalt und noch dunkel in London. Die hektische Vorweihnachtszeit neigte sich dem Ende zu. In ein paar Tagen war Weihnachten, das Fest der Liebe. Dieses Jahr hatte ich sogar schon alle meine Geschenke zusammen. Das passierter mir in meinem stressigen Leben höchst selten. Deshalb war ich froh, dass ich bald in einen ruhigeren Modus schalten konnte. Ich freute mich darauf, die Feiertage mit meinen Freunden verbringen zu können.
Glenda und Sir James waren noch nicht im Büro, als ich mich in die Sportsachen warf und die Wechselklamotten im Büro ließ. So drehte ich erstmal meine Runde im nahegelegenen St. James Park und lief dann am Themseufer entlang weiter Richtung Norden. Nach knapp einer Stunden kehrte ich zurück in Richtung Yard. Im Laufschritt überquerte ich die Victoria Embankment Street und bog in den kleinen Park vor dem Verteidigungsministerium ein. Es war jetzt kurz nach sieben und immer noch nicht viel los auf den Straßen. Die Sonne ließ sich hinter dem London Eye, auf der anderen Seite der Themse, aber schon erahnen.
Ich lief langsamer und verfiel kurz vor New Scotland Yard ins Gehen. Am Weihnachtsbaum mit den weißen Lichtern, vor der großen Treppe zum Eingang, blieb ich stehen und kontrollierte langsam meinen Atem, der stoßweise, in weißen Wolken in der kalten Morgenluft zerfaserte. Die Sportkleidung war durchgeschwitzt, meine Muskeln und mein Körper waren warm, meine Nase und mein Gesicht kalt. Ich machte ein paar kurze Dehnübungen auf der Treppe, um die Muskeln weiter zu lockern. Vereinzelt liefen grüßend Kollegen vorbei, die ich vom Sehen her kannte. Noch außer Atem hob ich kurz grüßend die Hand.
Als sich mein Atem wieder normalisiert hatte, stieg ich die Treppen zum gläsernen Vorbau des Yard hoch. Durch eine Drehtür, vor der zwei Bobbys standen, betrat ich die kleinere der Empfangshallen. Auch hier spürte man das nahende Weihnachtsfest deutlich. Ein etwas kleinerer, aber ebenso voll geschmückter Baum, stand an der Seite; Kugeln und andere Dekoration waren in der Halle drapiert und verbreiteten den weihnachtlichen Flair.
Mit meinem Dienstausweis loggte ich mich durch eine Personenschleuse in den Mitarbeiterbereich ein und ging weiter durch eine doppelflügelige Tür ins Hauptgebäude zu den Aufzügen.
Die dunkelhaarige Frau fiel mir sofort auf. Obwohl ich sie nur von hinten sah, hatte sie eine Ausstrahlung, die mich faszinierte. Sie war etwas kleiner als ich und ihr rabenschwarzes Haar fiel lang und glatt bis in die Mitte des Rückens. Ihre Figur war traumhaft, denn die schmalen Hüften und der etwas breitere Po wurden von einer dunklen Jeans umschmeichelt. Eine kurze, bis zur Hüfte reichende rote Jacke, stand im Kontrast dazu.
Sie wartete mit einigen weiteren Personen vor den Aufzügen. Ich stellte mich in ihre Nähe, und der Geruch ihres Parfums umwehte meine Nase. Es roch süßlich, mit einer Nuance Vanille. Den Kopf hielt sie gesenkt, denn sie sah unentwegt auf ihr Handy, welches sie in der Hand hielt und darauf herum tippte.
Die Frau nahm keinerlei Notiz von mir, und ich fühlte mich, so verschwitzt vom Joggen, nicht in der Verfassung sie anzusprechen. Ein helles Ping kündigte den Aufzug an und die Türen fuhren auseinander. Die Kabine war leer und die Wartenden stiegen nach und nach ein. Die Dunkelhaarige war immer noch in ihr Handy vertieft, als sie den Aufzug betrat. Ich folgte ihr und erhaschte kurz einen Blick in ihr Gesicht, als sie sich umdrehte. Nur einen Augenblick sah sie auf, und mich mit ihren dunkelbraunen Augen an. Unsere Blicke trafen sich und ein hübsches Lächeln huschte über ihre vollen Lippen. Dann war ich ebenfalls im Aufzug, drehte mich um und wählte über das Anzeigetableau meine Etage aus. Sie stand nun hinter mir und ein Kribbeln lief mir über den Rücken.
Der Aufzug setzte sich in Bewegung und fuhr nach oben. Zweimal hielt er an und ließ Kollegen aussteigen. Dann stoppte er in der Etage, in der mein Büro lag. Ich verabschiedete mich kurz und verließ den Aufzug. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass die Lady ebenfalls ausstieg. Immer noch in ihr Handy vertieft schlug sie die gegengesetzte Richtung ein und ging zielstrebig weiter.
Jetzt war ich doch etwas verwirrt. Was machte sie auf unserer Etage? Ich sah ein, dass dies mehrere Gründe haben konnte, einen Besuch aus geschäftlichen oder privaten Gründen zum Beispiel. Also wand ich mich ab und ging in die Richtung meines Büros. Im Gang schlug mir bereits das herrliche Aroma von Glendas Kaffee entgegen. Meine Laune stieg gleich weiter an.
»Guten Morgen, Glenda«, begrüßte ich sie, als ich in das Vorzimmer trat. Sie stand an der Kaffeemaschine und goss sich gerade eine Tasse des leckeren Gebräus ein.
»Guten Morgen, John. Warum bist du schon so früh auf und - «, sieh bemerkte verwundert meine Sportkleidung, »wo kommst du her?«
Ich nahm sie kurz in den Arm und gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange.
»John? Was ist los mit dir?«
»Ich bin heute früh aus den Federn gefallen und war bereits joggen. Ich bin wach und topfit.«
»Das merke ich. Und verschwitzt bist du auch.«
Ich lachte auf und ging in Richtung des Büros, das ich mir mit Suko teilte.
»Keinen Kaffee, John?«
»Nein, noch nicht. Ich werde mich erst frisch machen. Dann komme ich auf dein Angebot natürlich gerne zurück.« Ich merkte, dass Glenda mir fragend hinterher blickte.
Als ich die Türe zu unserem Büro öffnete, saß Suko bereits an seinem Platz über den Monitor gebeugt.
»Guten Morgen«, grüßte ich gut gelaunt.
»Morgen John. Na, da bist du aber früh aus dem Bett gefallen. Habe deine Nachricht gelesen.«
»Frag mich nicht. Ich konnte nicht mehr schlafen und da bin ich joggen gegangen.«
»Klingt logisch«, bemerkte mein Partner etwas spöttisch. »Du bist ja richtig gut gelaunt. Sport steigert die Endorphine. Müsstest du öfters mal machen.«
»Willst du damit sagen, ich bin sonst schlecht gelaunt?« Ich sah Suko streng an, aber wir merkten beide, dass wir ein wenig Schabernack miteinander trieben.
Ich zog die verschwitze Joggingjacke aus und hängte sie über meinen Bürostuhl. Aus der Seitentasche nahm ich meine Geldbörse und das silberne Kreuz. Ich hatte es beim Joggen dabei gehabt, aber nicht umhängend. Da schlug es mir immer gegen die Brust, und das war unangenehm. Ich war überrascht, denn es fühlte sich etwas warm an.
»Was ist los?«, fragte Suko, der mitbekommen hatte, dass ich meinen Talisman verwundert in der Hand hielt.
»Das Kreuz fühlt sich warm an.«
»Kein Wunder, wenn du es an deinem verschwitzen Körper trägst.«
Ich schüttelte verwirrt den Kopf, denn vielleicht sah ich wirklich schon Gespenster. Ich vermutete, dass das Kreuz sich erwärmt hatte, um mir eine Gefahr zu signalisieren. Aber welche Gefahr hätte das sein sollen? Ich legte es mit der Geldbörse auf den Tisch. Meine Beretta befand sich noch verschlossen im Waffenschrank. Sie würde ich nach dem Duschen holen.
»Dann gehe ich mal duschen. Bis gleich, Partner.«
Suko hob zur Verabschiedung die Hand, und ich verließ mit Wechselkleidung in der Sporttasche das gemeinsame Büro. Im Vorzimmer blickte Glenda hinter ihrem Monitor hervor und warf mir immer noch einen merkwürdigen Blick zu.
»Geh dich mal frisch machen, John. Du kannst es gebrauchen«, stichelte sie. Ich grinste sie nur an.
Dann warf ich mir die Sporttasche über die Schulter und verließ auch das Vorzimmer. Der Keller des Yard hielt für Mitarbeiter Duschen bereit, die ich nutzen wollte. Hier konnte ich mich waschen und danach Glendas vorzüglichen Kaffee genießen.
Ich ging den Gang zurück zu den Aufzügen, betätigte den Ruf und wartete. Nur kurze Zeit später meldete der Lift sich mit einem Ping, und die Türen öffneten sich. Ein Mann mittleren Alters sah genervt auf seine Armbanduhr, während ein älterer Herr mit ergrautem Haar und dunklem Anzug etwas angespannt in meine Richtung sah. Eine Frau mit blondem, kurz geschnittenen Haar in legerer Kleidung stand seitlich neben einem jungen, groß gewachsenen Managertyp. Er hatte sein braunes Haar streng zurück gegelt und hielt einen ledernen Aktenkoffer in der Hand. Ich stieg ein und drückte auf -1 um in den Keller zu gelangen.
»Einen Moment, bitte!«, hörte ich die Stimme. Geistesgegenwärtig blockierte ich die Lichtschranke, um die Türen offen zu halten. Und dann stand sie wieder vor mir: die atemberaubend schöne Unbekannte, die bereits auf dem Weg nach oben mit in der Aufzugskabine gestanden hatte.
»Vielen Dank!«, lächelte sie mich verführerisch an.
Sie ging an mir vorbei und stellte sich etwas schräg hinter mich. Dann schlossen sich die Türen, und der Aufzug fuhr abwärts. Meine Gedanken wirbelten erneut durcheinander, denn die Frau übte wirklich eine ungeheure Anziehung auf mich aus. Ich war kein schüchterner Mann, kein Feigling, eher ein offener Mensch, der gerne mit anderen ins Gespräch kam. Aber auch jetzt konnte ich mich nicht dazu durchringen, sie anzusprechen.
Etwas anderes war mir noch aufgefallen und ließ mich stutzen: Sie war eingestiegen und hatte keinen Etagenknopf gedrückt! Okay, jetzt war das Basement schon ausgewählt, weil dort jemand anderes aussteigen wollte. Und -1 ebenfalls. Aber eben, auf der Fahrt nach oben? Sie war vor mir in die Kabine gestiegen und hatte nicht gedrückt. Erst ich hatte meine Etage angewählt, und da war sie mit mir zusammen ausgestiegen. Das war schon merkwürdig.
Bevor ich den Gedanken richtig zu Ende denken konnte, gab es plötzlich einen harten Ruck. Die Blondhaarige schrie erschrocken auf. Die Kabine wackelte an den Halteseilen, und mit dem Geräusch von kreischendem Metall stand der Aufzug unmittelbar zwischen den Stockwerken still. Ich kämpfte mit der Balance, um nicht zu stürzen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass der gegelte Managertyp bei der abrupten Bewegung heftig mit seinem Arm gegen die Kabinenwand gestoßen war. Die attraktive Dunkelhaarige hatte einen Ausfallschritt gemacht und stand nun gefestigt auf dem Boden. Ihr Handy hielt sie, jetzt aber gesenkt, immer noch in der Hand.
»Was ist passiert?«, fragte der ältere Herr neben mir irritiert.
»Es scheint eine Störung zu geben. Wir haben gehalten.«
»Aber hier ist doch keine Etage zum aussteigen«, sprach die blondhaarige Frau.
»Oh nein!«, sagte der Mann, der eben genervt auf seine Uhr gesehen hatte. »Das muss doch nicht sein. Ich habe einen wichtigen Termin!«
Ich stellte meine Sporttasche ab, um etwas mehr Bewegungsfreiheit zu haben und sah mich etwas genauer um. Wir waren zu sechst in dem Aufzug. Der junge Bursche mit den zurück gegelten Haaren hatte seinen Koffer zu Boden fallen lassen und rieb sich den Ellenbogen. Er schien sich verletzt zu haben. Der grauhaarige Mann neben mir atmete etwas schneller und blickte sich verängstigt um. Die Blondhaarige schien gefasst zu sein, während der Genervte im mittleren Alter mehrmals hektisch auf die Uhr schaute und dann sein Handy hervorholte.
»Bleiben sie bitte alle ruhig«, forderte ich die Leute auf. Keiner der anderen schien diese Aufgabe an sich reißen zu wollen, deshalb versuchte ich den Überblick zu behalten.
»Sicher hat es einen kleinen Zwischenfall gegeben. Der Aufzug wird bestimmt gleich weiter fahren.«
Der ältere Herr drängte sich an mir vorbei und drückte die Taste für das Basement auf dem Bedientableau. Es leuchtete kein Ruf auf, die Anzeigen blieben dunkel. Erneut drückte er, diesmal etwas fester.
»Das bringt doch nichts«, sagte die blonde Frau.
»Wir müssen doch runter! Ich kann hier nicht bleiben!« Die Stimme des Alten war hoch und schien sich fast zu überschlagen. Ich sah Schweißperlen auf seiner Stirn. Sicher schien die extreme Situation in diesem doch beengten Raum, ihm Furcht einzuflößen.
»Wir kommen hier raus. Sie müssen nur einfach alle ruhig bleiben.«
Meine Blicke wanderten erneut von Einem zum Anderen. Die hübsche Dunkelhaarige hatte sich etwas abgedreht und tippte wieder auf ihrem Handy herum. Sie schien das alles nicht zu beeindrucken. Wenigstens Eine, die ruhig blieb, zollte ich ihr Anerkennung. Sie musste ich schon mal nicht im Auge behalten. Dafür aber den älteren Herrn, der immer noch verzweifelt auf dem Bedienfeld herum tippte, und den lädierten, jungen Managertypen.
»Haben sie sich schwer verletzt?«, fragte ich ihn.
»Keine Ahnung. Ich kann den Arm nicht bewegen. Bin mit dem Ellenbogen genau hier gegen geknallt.« Er zeigte auf den metallenen Handlauf in der Kabine.
Der Alte schlug weiter auf den Tasten herum, versuchte jede Etage anzuwählen und einen Notruf abzusetzen.
»Der Notruf geht auch nicht!«, rief er panisch.
»Bleiben sie ruhig. Man wird bereits gemerkt haben, dass der Aufzug feststeckt. Das wird bei der Security angezeigt. Die werden den Fehler gleich behoben haben.«
»Ich will aber nicht gleich hier raus. Ich will jetzt raus!«
Ich vermutete, dass es weiteren Ärger mit ihm geben würde, je länger wir in dieser Kabine eingeschlossen waren. Dies konnte auf die anderen Betroffenen auch negative Auswirkungen haben. Die kurzhaarige Blondine hatte sich dem verängstigten Alten genähert und ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter gelegt.
»Bleiben sie bitte ruhig. Hier passiert uns nichts«, versuchte sie ihn zu besänftigen. Sie blickte mich dabei an und ich nickte ihr zustimmend zu.
»Ich habe keinen Handyempfang«, sagte der genervte Hektiker mit einem Blick auf sein Smartphone.
Ich sah wieder zu der Dunkelhaarigen, die immer noch entspannt an der Seite stand und dem Ganzen keine große Aufmerksamkeit schenkte. Sie schien nur darauf zu warten, dass der Aufzug wieder losfuhr. Sie war aber immer noch in ihr Handy vertieft. Hatte sie Empfang?
»Wir sind hier durch die Metallwände abgeschirmt«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. »Da wird man schwer Empfang haben.«
»Ich muss aber Bescheid geben, dass ich später komme, wenn wir noch länger hier drinnen stecken.« Er steckte sein Handy wieder ein.
»Noch länger?« Der voller Panik steckende Herr schrie schrill auf. »Ich will hier nicht länger drinnen bleiben!«
Es waren gerade mal gefühlte fünf Minuten, seit der Aufzug stand. Sicher etwas weniger. Ich versuchte einen klaren Kopf zu bewahren.
»Haben sie Empfang?«, sprach ich die unbekannte Schöne an, die nicht von ihrem Handy aufsah, aber den Kopf schüttelte. Okay, gesprächig war sie nicht.
Plötzlich flackerte das Licht in der Kabine. Dann verlosch es und es war stockfinster.
»Ich will hier raus!« schrie der Alte und seine hektischen Bewegungen ließ den Aufzug knarzend hin und her wackeln.
»Bleiben sie ruhig!«, versuchte ich mir abermals Gehör zu verschaffen.
Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und der rötliche Schein vom Handydisplay der Schönen verbreitete ein diffuses Licht. Der Geschäftsmann fingerte nach seinem Handy, welches er kurz zuvor weggesteckt hatte. Der ältere Herr neben mir war so voller Entsetzen, dass er sich wie ein kleines Kind zu Boden gekauert und das Gesicht hinter seinen Händen verborgen hatte. Die leger gekleidete Blonde sah sich unsicher um.
»Wir müssen alle die Nerven behalten!«, bat ich eindringlich. »Die Kabine steht noch. Wir kommen hier wieder raus!«
Ich wusste wie schnell Panik in Menschen entstehen konnte, und das brauchten wir jetzt am Wenigsten. Leider kam alles ganz anders, und das Blatt wendete sich in eine Richtung, mit der ich nie gerechnet hätte.
»Ihr werdet aber alle Angst haben, Sinclair!«, vernahm ich die schrecklich verzerrte Stimme der schwarzhaarigen Schönheit.
Ich hatte sie völlig aus dem Fokus gelassen, weil ich in ihr das geringste Risiko gesehen hatte. Aber leider hatte ich mich da getäuscht. Als mein Blick sie erfasste, sah sie mich mit einem teuflischen Lächeln an und im rötlichen Schein veränderte sich ihr Gesicht auf unnatürliche Weise. Die Haut wurde von Schuppen überzogen und ihr Mund verbreitetere sich zu einem Maul mit spitzen Reißzähnen.
Der unter Zeitstress stehende Hektiker hatte sein Handy hervor geholt und das Licht eingeschaltet.
Und dann überschlugen sich plötzlich die Ereignisse!
Die Veränderte stieß mich mit einem harten Schlag gegen die Brust zurück. Jetzt war der Weg zu ihrem Ziel frei. Sie bewegte sich wie ein wirbelnder Schatten auf den Gestressten zu und schlug ihm wuchtig das Handy aus der Hand, das in seiner unkontrolliert, fliegenden Bewegung zuckende Lichtreflexe innerhalb der Kabine erzeugte. Dann riß sie das Maul weit auf und schlug die Zähne in den Hals ihres Opfers. Der Angegriffene schrie entsetzlich auf. Blut spritzte durch den kleinen Raum.
Dann stieß das Handy gegen die Kabinenwand, fiel zu Boden und das Licht erlosch sofort. Wieder senkte sich Schwärze über uns. Die Geräusche aber waren grauenhaft. Das raubtierhafte Brüllen mischte sich mit schmerzverzerrten und angstvollen Schreien.
Langsam gewöhnten sich meine Augen wieder an den rötlichen Schein, der immer noch von dem Handydisplay der ehemalig, attraktiven Frau ausging. Es lag auf dem Kabinenboden und beleuchtete die chaotischen Szenen.
Wie eine Puppe schleuderte das Monster jetzt den leblosen Körper ihres Opfers auf den jungen Managertyp zu, den er zu Boden riss und unter sich begrub. Ich musste an das Ungeheuer herankommen, auch wenn ich noch nicht wusste, wie ich es aufhalten konnte. Aber es durfte keine weiteren Toten geben!
Das Monster hatte sich mir zugewandt, und ich konnte es jetzt etwas genauer betrachten. Der ganze Körper war mit grünlichen Schuppen bedeckt, der Mund hatte sich in ein zähnefletschendes Maul verwandelt und die Finger waren zu Klauen geworden. Es starrte mich mit einem hasserfüllten Blick an. Ich vermutete, eine Kreatur der Finsternis vor mir zu haben!
»Sinclair!«, grollte sie mir entgegen. »Jetzt habe ich dich!«
Die Kreatur wollte eindeutig meinen Tod! Und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich erledigt hatte. Mit Fäusten konnte ich sie mir nur kurz vom Leib halten. Sie würde immer stärker und ausdauernder sein als ich. Ich stoppte mein Gedankenkarussell und ging zum Überraschungsangriff über. Ich war tatsächlich schneller und packte ihren echsenähnlichen Kopf. Mit Wucht schlug ich ihn gegen den metallenen Handlauf. Es gab ein hässliches Knacken, etwas brach in ihrem Schädel und der Aufzug bewegte sich erneut ruckartig.
Bedenken, dass wir abstürzen könnten, hatte ich nicht. Ich wusste, dass die Kabinen ein effektives Sicherheitssystem besaßen. Da sollte keine Gefahr bestehen. Außer natürlich, das System wurde magisch beeinflusst. Aber wie sollte sie das gemacht haben? Die Kreatur der Finsternis knurrte, fauchte und schlug wütende mit den krallenbewehrten Fängen nach mir.
Nur am Rande bekam ich mit, dass die Blonde versuchte, aus dem Angriffsbereich der Kreatur zu kommen. Der verletzte Managertyp wand sich ächzend unter dem reglos auf ihm liegenden hervor. Der alte Mann hockte weiterhin auf dem Boden, wippte unruhig vor und zurück und schrie immer wieder auf.
Der blutrote Schein zuckte, als ich dem Schlag der Krallen auswich und dabei gegen das Handy trat. Trotzdem erwischten sie mich, zerrissen mein Shirt und hinterliessen blutige Striemen, die höllisch brannten, auf meiner Brust. Die Aufzugskabine wurde abermals durchgeschüttelt, als sich die Kreatur der Finsternis auf mich stürzte. Sie schaffte es, mich zu packen und durch den kleinen Raum zu schleudern. Hart schlug ich gegen die metallene Wand und spürte, wie sich der Handlauf in meinen Rücken bohrte. Ein noch stärkerer Schmerz durchzuckte meinen Körper und ließ mich zusammenbrechen. Sofort war die Kreatur über mir und drückte mich zu Boden. Sie riß ihr Maul weit auf und stinkender Atem nahm mir die Luft. Verzweifelnd setzte ich all meine Kräfte ein, um dieses Unwesen von mir fern zu halten.
Verschwommen nahm ich wahr, wie der rot glosende Schein mal heller und dann wieder dunkler wurde. Ein irrwitziger Gedanke durchfuhr mich. Bezog die Kreatur der Finsternis ihre Kraft vielleicht über das Handy? Oder konnte sie damit die Blockade des Aufzugs steuern?
Ich hatte meine Knie angewinkelt und hielt so Abstand zu meinem Gegner. Aber meine Kräfte schwanden zunehmend, und die Kreatur der Finsternis versuchte weiterhin mich mit den Krallen zu verletzen oder mir die Kehle zu zerfetzen.
»Das Handy … «, krächzte ich und versuchte der Blonden klar zu machen, was ich meinte.
Mein Bauchgefühl sagte mir, dass mit dem Handy etwas nicht stimmte. Und deshalb sah ich im Moment die einzige Möglichkeit etwas auszurichten darin, das Mobiltelefon zu zerstören. Die Blonde verstand in etwa was ich wollte und bückte sich nach dem Handy. Ich schüttelte den Kopf.
»Kaputt!«, stieß ich keuchend hervor, weil die Pranken der Kreatur auf meinen Brustkorb drückten und mir nicht genug Luft zum atmen ließen.
Plötzlich gab das Ungeheuer über mir meinem Druck nach und ließ sich nach hinten katapultieren. Dabei behielt es die Kontrolle über seinen Körper und warf die Klauen nach vorne. Von oben herab zielten es auf meinen Kopf. Gedankenschnell riss ich ihn zur Seite, und abermals fuhren die spitzen Krallen über meinen Körper, diesmal tiefer in das Fleisch hinein. Ich schrie auf.
Wenn nicht bald ein Wunder geschah, war es um mich, und damit auch um die anderen Menschen in diesem Aufzug geschehen. Die Kreatur der Finsternis würde nicht aufhören zu töten, wenn sie mich besiegt hatte. Sie würde ihrem höllischen Trieb freien Lauf lassen.
Das Knacken des Handydisplay mischte sich mit dem Schrei der Kreatur, als die blonde Frau mit dem Absatz das Mobiltelefon zerstörte. Im Nu war es wieder völlig Dunkel. Ich spürte wie die Kreatur der Finsternis sich von mir zurückzog, und ich versuchte mich aufzurappeln. Ich erfasste den Handlauf und zog mich mit letzter Kraft hoch. Der entsetzliche Schrei der jungen Blonden fuhr mir eiskalt den Rücken hinab. Nahm das Grauen denn gar kein Ende?
Das plötzlich aufflackernde Kabinenlicht gab mir stroboskopisch den Blick auf die grausame Szene frei. Die Kreatur hatte sich auf ihr nächstes Opfer geworfen und ihr Maul in dem Körper der Blondhaarigen versenkt. Mit vor Schreck geweiteten Augen versuchte sie in immer langsamer werdenden Bewegungen die Bestie von sich fern zu halten. Doch die Kreatur der Finsternis wütete weiter, und das Blut der Sterbenden verteilte sich in der Aufzugskabine. Der alte Mann schrie wieder voller Panik.
Ein metallenes Kreischen, ein kurzer Ruck und plötzlich setzte sich der Aufzug wieder in Bewegung. Also war das Handy wirklich für den technischen Ausfall verantwortlich gewesen! Jetzt war es zerstört, und der Aufzug nahm wieder den Betrieb auf.
Aber die Kreatur der Finsternis war damit nicht erledigt. Sie ließ gerade von der blonden Frau ab, die tot zu Boden kippte und drehte sich mit blutverschmiertem Maul zu mir um. Ohne Vorwarnung stürzte sie sich auf mich. Ich ließ mich fallen und versuchte mich zur Seite zu drehen. Es gelang mir nur halbwegs und die Klaue erwischte mich an der Jogginghose, die ratschend zerriß. Dann war das Ungeheuer erneut über mir.
Unerwartet stoppte der Aufzug aufs Neue, was die Kreatur der Finsternis aus dem Konzept brachte. Mit einem Ping öffneten sich die Türen. Oh mein Gott!, dachte ich. Jetzt hatte das Monster freie Bahn und konnte fliehen, um weiteres Unheil anzurichten!
»John! Vorsicht!«, hörte ich überraschend eine mir vertraute Stimme.
Stocksteif blieb ich liegen, obwohl die Kreatur der Finsternis dazu ansetzte mir meine Kehle zu zerfetzen. Der Klang der Beretta war Musik in meinen Ohren. Ich schloss die Augen, denn dicht über mir zerplatze der Schädel des Monsters und verteilte sich über mir. Eine weitere Silberkugel schlug in seinen Oberkörper und warf es ein Stück von mir weg.
Erschöpft und völlig blutverschmiert lehnte ich mich an die Kabinenwand. Der Alte schrie immer noch und der junge Managertyp mit den gegelten Haaren war in Ohnmacht gefallen.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte mein Freund.
Der Aufzug präsentierte sich in einem schrecklichen Bild und ich hörte, wie einer der umstehenden Bobbys sich übergeben musste. Ich konnte Suko keine Antwort geben, weil ich selbst noch nicht fassen konnte, was hier abgelaufen war.
»Kann ich dich nicht mal alleine duschen gehen lassen?«, fragte er und wollte die Situation aufheitern.
Aber der Humor verging uns sehr schnell, denn das Erlebte war wirklich schrecklich gewesen. Es hatte zwei Tote und zwei Verletzte gegeben. Der alte Mann brabbelte unverständliches Zeug vor sich hin und litt an einem schweren Schock.
Die Kreatur der Finsternis hatte schrecklich gewütet und eigentlich nur mir ans Leder gewollt. Leider waren dabei wieder einmal unschuldige Leben ausgelöscht worden.
»Danke, Partner. Du bist immer zur Stelle, wenn man dich braucht!«, sprach ich erschöpft.
Der komplette Apparat des Yard wurde eingeschaltet. Die Toten wurden abtransportiert und die Verletzten versorgt. Auch ich kam erstmal in die ärztliche Abteilung, wo meine Wunden versorgt wurden. Diesmal war es wirklich sehr knapp gewesen. Ich konnte dankbar dafür sein, das kommende Weihnachtsfest noch erleben zu dürfen. Ich brauchte noch ein wenig Ruhe, aber dann würde ich Weihnachten genießen. Immer in der Hoffnung, dass kein Feind mir einen Strich durch diese Rechnung machen würde …
ENDE