Diese John-Sinclair-Kurzgeschichte habe ich für einen Wettbewerb im Internet (Facebook) geschrieben. Leider habe ich es nicht unter die drei Gewinner geschafft, aber sie wurde im John Sinclair Roman 2153 ,Die Teufelsnonne‘ als Leser-Kurzgeschichte abgedruckt.
Nach einem legendären Kneipenabend mit Bill entschied ich mich für Homeoffice. Selbst die Cavallo konnte mich nicht aus der Wohnung locken. Als ich von Sheila erfuhr, dass Bill nicht nach Hause gekommen war, hörte der Spaß auf. Was hatte die Cavallo mit Bills Verschwinden zu tun? Und wer war Corinna?
Homeoffice
2019 © Alexander Weisheit
(weisheit(at)weisheitsperlen.de)
Das penetrante Vibrieren meines Handys riss mich nach und nach aus den Tiefen des Schlafes. Draußen war es noch dunkel und die bohrenden Kopfschmerzen verstärkten die Vermutung, dass ich nicht lange geschlafen haben konnte.
Ich griff nach dem Handy. Was konnte - ich warf einen Blick auf das Display: Suko! - um diese Zeit von mir wollen?
»Ja … !«, versuchte ich einen mürrischen Unterton in meine Stimme zu legen. Es wurde ein heiseres Krächzen.
»Bist du es, John?«
»Wen hast du denn angerufen?«, fragte ich unwirsch zurück.
»Ach ja! Du warst gestern Abend mit Bill unterwegs«, sprach mein Freund ziemlich laut in das Telefon. »Vorprogrammierter Absturz, verstehe. Wann bist du denn nach Hause gekommen?«
»Kannst du bitte etwas leiser sprechen? Ich verstehe dich ganz gut.«
Ich ging selten mit meinem alten Freund Bill Conolly aus, aber wenn, dann ließen wir nichts anbrennen. Bill wollte mir einige seiner Lieblingskneipen zeigen. Wieviele es dann geworden waren, konnte ich nicht mehr sagen.
»Wie spät ist es jetzt?«, versuchte ich mich zeitlich zu orientieren.
»Kurz nach sechs. Zeit für die Arbeit«, bemerkte Suko.
»Um halb vier«, antwortete ich mit Verzögerung auf seine Frage.
»Oha. Dann gönnst du dir heute sicher einen freien Tag«, vermutete mein Freund.
»Quatsch!« Eigentlich sollte ich mich heute wirklich schonen. Aber ich vertrat den Standpunkt ›Wer saufen kann, kann auch arbeiten.‹ Deshalb wollte ich auf keinen Fall den ganzen Tag frei machen. »Ich arbeite von hier aus«, sagte ich aus voller Überzeugung. »Ich mache … Homeoffice!«
»Du machst … was?«, fragte Suko ziemlich erstaunt. »Soll ich dir die Vampire und Zombies nach Hause schicken?«
»Ach, Partner. Ich habe noch einiges an Schreibkram zu erledigen. Das kann ich auch von hier aus machen. Oder steht etwas Wichtiges an?«
»Nein, gar nichts«, antwortete Suko. »Dann erhol dich erstmal. Ich melde mich später wieder bei dir.«
»Mach das, Suko. Ich springe gleich unter die Dusche und danach bin ich wieder topfit!«
»Den Trick musst du mir beizeiten mal zeigen. Lass es langsam angehen, Alter. Bis später.«
»Bis später.«
Dann legte ich das Handy auf den Nachttisch und war sofort wieder eingeschlafen.
Als mich mein Handy das nächste Mal aus dem Schlaf holte, wurde es draußen langsam hell. Viel Zeit konnte nach Sukos Anruf trotzdem nicht vergangen sein. Ein Blick auf das Display verriet mir, das es kurz vor acht war und diesmal mein Chef, Sir James Powell, etwas von mir wollte:
»Homeoffice, John!?«, bellte er mir entgegen und erinnerte mich wieder an meine Kopfschmerzen.
»Sir, ich … «
»Homeoffice müssen sie schriftlich bei mir beantragen! Und ich muss ihnen das schriftlich genehmigen!«, sprach er weiter, ohne meinen Erklärungsversuch abzuwarten.
»Sir, mit Verlaub. Hat nicht jeder Mitarbeiter des Yards Anrecht auf Homeoffice?«, versuchte ich mich verschwommen an die Regularien des Polizeidienstes zu erinnern.
Kurz war es am anderen Ende ruhig, dann erwiderte mein Chef:
»Lassen sie den Unsinn, John! Sie hören sich wirklich schrecklich an! Am Besten ruhen sie sich heute aus und erscheinen morgen früh pünktlich und topfit wieder zum Dienst!«
»Sir, eine Dusche bringt mich gleich wieder auf die Beine. Außerdem arbeite ich noch ein paar liegengebliebene Protokolle ab.«
»Wie sie meinen, John. Alles Gute!«
»Danke, Sir.« Powell hatte bereits aufgelegt.
Ich legte das Handy zur Seite und schlief abermals ein.
Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, gab es nichts, was mich geweckt hatte. Oder besser gesagt nichts elektronisches. Es war eher ein Drang natürlichen Ursprungs: Das Bier von gestern wollte raus. Mein Kopf schien immer noch größer zu sein, als er in Wirklichkeit war.
Ein Blick auf mein Handydisplay verriet mir, dass es bereits kurz vor zehn war. Außerdem hatte ich einige Emails, SMS und WhatsApp bekommen. Die Nachrichten interessierten mich im Moment nicht so sehr, wie der Druck auf meiner Blase. Die Erleichterung nach der Toilette war ein ausgesprochen wohltuendes Gefühl. Ein Schwung kaltes Wasser tat sein Weiteres, mich etwas erfrischter zu fühlen.
Den Gedanken an eine Dusche schob ich jedoch erstmal beiseite. Mich interessierte jetzt, was für Nachrichten ich während meines Schlafes erhalten hatte. Zwischen zwei Werbe-Mails und einer WhatsApp aus dem Yard hatte die Cavallo mir eine SMS geschrieben:
›Triff mich in einer Stunde am Highgate Cemetery‹, war die knappe Aufforderung. Typisch für die Cavallo.
Die blonde Bestie war bekannt dafür, uns gerne mal um Hilfe zu bitten. Meist sollten wir für die Vampirin die Konkurrenz aus dem Weg räumen.
Laut Absendeuhrzeit fand das Treffen gerade im Moment statt. Tja, dann hatte ich den Termin wohl verschlafen. Abgesehen davon, hatte ich jetzt gar keine Lust mich auf die Spielchen der Cavallo einzulassen. Also antwortete ich ihr dementsprechend:
›Sorry. Wenn du mir etwas mitteilen möchtest schreib mir oder komm vorbei. Ich mache Homeoffice!‹
Ihre Antwort erfolgte prompt und machte mir klar, dass sie verstanden hatte, was ich ihr sagen wollte: Sie schickte mir das Icon mit dem ausgestreckten Mittelfinger.
Zufrieden legte ich das Handy zur Seite und entschied mich jetzt doch für eine Dusche.
Die Dusche hatte gutgetan und die Lebensgeister einigermaßen in Fahrt gebracht. Natürlich spürte ich immer noch die Nachwirkungen des vergangenen Abends. Ich war bei weitem noch nicht wieder nüchtern, aber trotzdem hatten mir das warme Wasser und die wohlriechende Seife geholfen etwas wacher zu werden.
Als ich das Bad verließ, hörte ich erneut mein Handy klingeln. Auf dem Display grinste mich Sukos Konterfei an. Es war kurz nach halb elf.
»Suko, gibt es etwas Neues?«, fragte ich, und er hörte wohl an meiner Stimme, dass es mir besser ging.
»Hey Alter, du hörst dich ja fast wieder normal an.«
»Ich sagte doch, eine Dusche hilft.«
Suko lachte auf.
»Die du jetzt erst genommen hast … Na gut, ich hätte sowieso nicht viel früher mit dir gerechnet. Und nein, es gibt nichts Neues. Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.«
»Besser.« Ich setzte mich auf das Bett und rubbelte mir die Haare trocken.
»Wo wart ihr den gestern Abend, dass ihr so versackt seid?«, wollte mein Freund wissen.
»Frag nicht. Ich weiß nicht in was für Schuppen Bill mich geschleppt hat. Wir waren gleich in mehreren, aber keine Ahnung wie die alle hießen. Auf jeden Fall gab es eine Menge Alkohol.«
»Von dem ihr reichlich gekostet habt.«
»Deshalb waren wir ja da. Die schenken aus, und wir konsumieren.«
»Hast du von Bill schon was gehört? Lebt der auch noch?«
»Nein, noch nichts. Der meldet sich sicher, wenn er aus dem Koma erwacht.«
Wir mussten beide lachen, denn wir kannten Bill gut genug. Ich wusste, dass er gerne über die Stränge schlug und auch mehr vertrug als ich. Seine Frau Sheila war nie begeistert, wenn Bill mit mir unterwegs war. Egal ob wir in Kneipen gingen oder auf Dämonenjagd.
»Ich mache mir jetzt erst mal einen Kaffee. Auch wenn ich es jetzt schon bereue, nicht im Yard zu sein, um Glendas köstlichen Kaffee zu kosten.«
»Du hattest dafür gestern das Bier mit Bill.«
»Lassen wir es dabei. Wir hören uns. Bis später, Suko.«
»Bis später, John.«
Es war gegen elf Uhr, als mein Handy abermals klingelte. Ich trank gerade Kaffee und hatte mir ein paar Scheiben Toast gemacht. Der Anruf kam vom Festnetz der Conollys. War der alte Haudegen also auch endlich aus den Federn gekrochen.
»Und, was macht dein Kopf?«, meldete ich mich mit Vorfreude auf Bills Antwort. Ich ging davon aus, dass es ihm nicht besser ging als mir.
Mein Lächeln gefror mir jedoch gleich darauf, als ich Sheilas Stimme am anderen Ende hörte.
»John?« Sie klang besorgt. Das bedeutete nichts Gutes. Ich versuchte ruhig zu bleiben.
»Sheila. Guten Morgen. Was kann ich für dich tun?«
Ich trank einen weiteren Schluck Kaffee, um mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Ihre nächste Frage jedoch ließ in mir die Alarmglocken anschlagen:
»Ist Bill bei dir? Hat er bei dir übernachtet?«
Ich versuchte in den nächsten Sekunden die Verabschiedung heute Morgen in meine Gedanken zu bekommen, was mir nicht wirklich gelang. Ich wusste, dass Bill und ich getrennt nach Hause gefahren waren. Ich hatte ein Taxi genommen. Bill doch auch …
»Nein, Sheila. Bill ist nicht hier. Liegt er nicht noch im Bett?«
»John!«, rief sie entsetzt. »Sonst würde ich dich doch nicht anrufen. Bill ist nicht nach Hause gekommen!«
»Bill kommt immer nach Hause«, versuchte ich Sheilas Aussage herunter zu spielen, aber ein ungutes Gefühl blieb.
»Ich mache mir wirklich Sorgen. Ich dachte zuerst, er übernachtet bei dir oder sonst wo. Aber dann hätte er mich doch informiert.«
In meinem Kopf ratterten die Gedanken wild durcheinander. Ich versuchte vergeblich nachzuvollziehen, was gestern, oder eher heute Morgen, passiert war.
»Hast du versucht ihn auf dem Handy zu erreichen?«
»Für wie blöde hältst du mich eigentlich? Klar habe ich das versucht. Ich bekomme keine Verbindung zu seinem Handy.«
Jetzt schlugen die Alarmglocken in meinem Inneren bereits heftiger an. Das sprach nicht für Bill. Egal wo er hinfuhr, oder wie betrunken er war, er hinterließ Sheila immer eine Nachricht. Irgendetwas war da faul.
»Wir haben uns heute früh getrennt und sind jeder für sich nach Hause gefahren. Mehr kann ich dir nicht sagen. Pass auf: ich bin zu Hause und mache Homeoffice … «
»Homeoffice?« Sheilas Stimme klang verwundert.
»Ja, das wäre jetzt etwas viel, das alles zu erklären, aber ich rufe Suko an. Er ist im Büro. Wir werden alle Hebel in Bewegung setzen, um Bill zu finden.«
Sheila wirkte nicht sehr beruhigt. Mit dem Versprechen, das ich mich schnellstmöglich bei ihr melden würde, ließ ich sie zurück.
Als ich auflegte, hatte ich plötzlich ein ganz mieses Gefühl. Und dann drängte sich ein Name in mein Gedächtnis: Corinna! Wer war Corinna?
»Bill ist verschwunden?« Sukos Stimme klang verwundert, aber ich wusste, dass er mir glaubte.
»Sheila rief eben an und sagte, Bill wäre heute Morgen nicht nach Hause gekommen. Kannst du herausfinden, ob es in der Nacht Unfälle gegeben hat? Glenda soll die Krankenhäuser abtelefonieren und nachhören, ob dort ein Patient eingeliefert wurde, von dem die Identifikation fehlt.«
»John, wie stellst du dir das vor? Natürlich hat es in der Nacht Unfälle gegeben. London ist groß, aber … «
»Es geht um Bill, Suko!« Meine Stimme wurde ernster und der Druck in meinem Kopf nahm wieder zu. »Da müssen wir doch was machen! Ich würde ja selber fahren, aber du weißt doch … «
»Ja, du machst Homeoffice.«
»Suko! Ich meine es Ernst. Ich setze mich nicht mit Alkohol im Blut ans Steuer!«
Suko atmete tief ein und aus.
»Sorry. Ich werde sehen was ich herausfinden kann. Aber überleg du lieber mal, wo ihr verdammt nochmal gestern gewesen seid! Ihr könnt euch doch nicht die Birne zuschütten und von nichts mehr eine Ahnung haben.«
»Gut, ich versuche mich zu erinnern. Wir telefonieren dann gleich nochmal.«
Dann legten wir auf.
Der Name Corinna ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Nach und nach schälte sich das Gesicht einer jungen Frau aus meinen verschwommenen Erinnerungen. Ja, Corinna war die Bedienung der letzten Gaststätte gewesen, in der wir waren. Ein nettes junges Ding, welches uns gerne die Getränke-Wünsche erfüllte. Wir hatten mit ihr geredet, Bill mit ihr geschäkert. Bill und Corinna hatten sich gut verstanden. Ich hatte doch auch Bilder gemacht.
Ich nahm wieder das Handy an mich und schaute in meinen Fotoordner. Das letzte Bild zeigte Bill und Corinna. Es war ziemlich unscharf, wurde ohne Blitz und in einer sehr miesen, rötlichen Beleuchtung aufgenommen. Ich vergrößerte es, zoomte noch näher heran, wischte dann hin und her. Besonders Corinna war kaum zu erkennen. Das machte mich stutzig und brachte mich schnell auf den Gedanken an Vampire. Sie scheuten nicht nur das Sonnenlicht, sondern konnten auch auf Bildern nicht gut abgelichtet werden, wenn man sie überhaupt fotografieren konnte. Vampire!
Aber was hatte Corinna mit Bills Verschwinden zu tun? Es dauerte nochmals ein paar Momente, bis der Groschen fiel: Corinna hatte sich angeboten, Bill nach Hause zu fahren! Er hatte das Angebot angenommen, weil Corinna ebenfalls im südlichen London wohnte. Oh man! War Bill von einer Vampirin in die Falle gelockt worden?
Jetzt verstand ich auch, warum Corinna auffällig viel Abstand zu mir gehalten hatte. Sie mußte bemerkt haben, das ich etwas an mir hatte, was ihr gefährlich werden konnte. Und ich hatte nicht auf mein Kreuz geachtet, wusste nicht, ob es sich erwärmt hatte. Jetzt war es zu spät sich darüber Gedanken zu machen.
Ich schickte das Foto in einer Email zu Suko ins Büro und wählte gleich darauf seine Nummer. Es dauerte nicht lange, bis er ran ging.
»Ich habe dir gerade ein Bild auf die Yard-Mail geschickt.« Ich hörte ihn im Hintergrund auf der Tastatur tippen.
»Ja, bekommen. Sieht aber ziemlich dunkel aus. Und wer ist die Frau neben Bill?«
»Das ist Corinna. Vermutlich ein Vampir!«
Jetzt verschlug es Suko die Sprache.
»Das hast du jetzt in der kurzen Zeit Nachdenken herausgefunden? Alle Achtung!«
»Mir kommt es merkwürdig vor, dass sie auf dem Bild sehr verschwommen zu erkennen ist. Bill dafür deutlicher. Corinna ist die Bedienung in dem Laden, wo wir gestern zuletzt waren. Und sie hat Bill nach Hause gefahren!«
»Du bist mir unheimlich, John!«
»Nachdenken hilft manchmal.«
»Deshalb bist du mir ja unheimlich.«
»Haha. Pass auf, du rufst in der Taxizentrale an und fragst, wo der Fahrer mich abgeholt hat. Und ich rufe die Cavallo an und rede mit ihr ein paar ernste Worte über Vampire.«
»Wer bist du und was hast du mit John gemacht?«
»Du glaubst gar nicht, was ein paar Stunden Homeoffice alles für Vorteile hat! Lass uns loslegen. Wir müssen Bill finden!«
Es war bereits kurz nach Mittag, als ich die Nummer der Cavallo wählte und darauf wartete, dass sie abhob. Sie liebte es, mich hinzuhalten. Vielleicht war sie auch noch sauer auf mich, weil ich sie heute Morgen versetzt hatte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor bis sie endlich ans Telefon ging.
»Ah, John! Bist du fertig mit deinem Homeoffice?« Ich hörte den ironischen Unterton in ihrer Stimme.
»Lass den Quatsch, Justine! Bill ist entführt worden!«
»Oh«, sagte sie kurz, doch dieser Ausdruck spiegelte keine wirkliche Überraschung wider. »Was habe ich damit zu tun?«
»Bill ist von einer Vampirin entführt worden, und ich will von dir wissen, was du mir über Corinna sagen kannst.«
»Wie kommst du darauf, dass ich sie kenne und etwas über sie wüsste?«
»Justine, tu nicht so. Du weißt doch immer was in Sachen Vampiren in London los ist. Hast du schon mal von ihr gehört?«
»Hmmmm. Vielleicht. Kann sein.«
»Wo finde ich sie? Wo ist ihr Versteck?«
»Warum soll ich dir helfen, John? Wo du mich doch heute Morgen versetzt hast?«
»Weil sich die Situation geändert hat. Es geht um Bill und ich mache mir große Sorgen!« Justine lachte und dieses Lachen gefiel mir ganz und gar nicht.
»Du machst dir berechtigt Sorgen um deinen Freund. Mit Corinna ist nicht zu spaßen.«
»Dann kennst du sie also?«
»Na klar. Was meinst du denn warum ich dich heute Morgen angeschrieben habe? Ich wollte wirklich nicht, dass deinem Freund etwas Schlimmes passiert.«
Plötzlich fuhr ein eiskalter Schauer über meinen Rücken. Ich begriff langsam, was Justine mir da mitteilte.
»Du wusstest, dass Bill sich in den Klauen dieser Corinna befindet und hast mir nichts gesagt?«
»John«, jetzt klang ihre Stimme verletzt. »Ich habe es doch versucht. Wenn du deinen knackigen Arsch heute Morgen zu mir bewegt hättest, wäre dein Freund vielleicht schon frei. Aber so … Ich sehe da ehrlich gesagt schwarz für Bill.«
»Justine, das ist nicht witzig! Wo finde ich Bill? Wo ist Corinna?«
»Jetzt hör mir mal genau zu, John.« Der honigsüße Unterton war aus Justines Stimme verschwunden, und sie sprach mit einer dämonischen Härte zu mir, die ich ebenfalls von ihr kannte. »Ich bin es nicht Schuld, wenn Bill etwas zugestoßen ist. Ich bin nicht sein Kindermädchen. Du hast mich heute Morgen abgewimmelt. Jetzt sieh zu, wie du aus der Situation herauskommst.« Dann legte sie auf.
Sekundenlang starrte ich auf das Display. Dann wurde mir klar, dass ich gar nicht aus der Situation herauskam. Wie gerne würde ich mich jetzt in meinen neuen, silberfarbenen Audi A6 Limousine setzen und Bill suchen fahren. Aber der Alkoholspiegel in meinem Blut war noch viel zu hoch. Außerdem hatte ich keinen Anhaltspunkt, wo ich mit der Suche beginnen sollte. Oder doch? Plötzlich fiel mir etwas ein.
Ich schnappte mir wieder das Handy und rief Suko an.
»Du musst sofort auf den Highgate Cemetery! Corinna hat da ihr Domizil und hält Bill fest!«
Es dauerte einen Moment bis Suko antwortete:
»Okay, John. Ich weiß nicht genau, wie du jetzt darauf kommst, und ich bin mit meiner Recherche nach eurer Wirtschaft von letzter Nacht auch noch nicht weiter. Aber so wie du dich anhörst, spielt das keine Rolle mehr, richtig?«
»Ja, spielt es erstmal nicht. Die Cavallo wollte mich heute Morgen schon auf dem Friedhof treffen. Sie hat nicht gesagt warum, und ich habe sie einfach ignoriert. Jetzt konnte sie es sich nicht verkneifen mir zu sagen, dass es um Bill ging. Sie hatte mitbekommen, dass Corinna unseren Freund in ihren Fängen hat. Ich sollte Corinna für sie töten und hätte Bill befreit. Diesmal hätten wir sogar auch etwas von dem Deal gehabt. Und ich Idiot habe sie abgewimmelt.«
»Okay, John. Ich mache mich sofort auf den Weg. Bleib auf Empfang. Ich melde mich, sobald ich etwas zu berichten habe.«
»Danke, Partner. Viel Glück!«
Ich hatte meine Kaffeetasse mehrmals wieder aufgefüllt und tigerte unruhig in meiner Wohnung auf und ab. Die Wartezeit nagte an meinen Nerven. Suko hatte sich vor gut einer Stunde gemeldet und mir mitgeteilt, dass er losgefahren war. Also müsste er den Friedhof bald erreicht haben.
Es war bereits halb zwei, als sich mein Handy wieder meldete. Die Überraschung war groß, als ich sah, dass Bill mich von seinem Handy aus anrief. Mein Herz schlug schneller und ich hob sofort ab.
»Bill? Bist du das?« Es rauschte und knackte in der Leitung. Der Empfang war mies.
»John?« Leise vernahm ich die Stimme meines Freundes und ein Stein fiel mir von Herzen. Er lebte noch!
»Ja, Bill. Wo bist du?«
» … einem Keller … «, wieder eine Unterbrechung, » … gefangen worden. Ich komme nicht raus … «
»Bill, ich verstehe dich ganz schlecht. Wo bist du? Hörst du mich?« Wieder rauschte es.
» … kann … nicht verstehen … Hilf mir … Katakomben … «
»Bill, bleib dran! Ich rufe Glenda an. Sie soll dein Handy orten.«
Ich nahm mein Festnetztelefon und wählte Glendas Büronummer, während ich das Handy auf Lautsprecher geschaltet hatte.
»Corinna hat mich … geschlagen … verletzt … mein Blut.«
»Suko ist unterwegs. Wir holen dich da raus.«
»Ja, John?«, hörte ich auf der anderen Leitung Glendas Stimme. Ich war aufgeregt und sprach schnell und hektisch.
»Glenda, ich habe Bill am Handy! Bitte orte sein Telefon. Wir müssen wissen, wo er ist. Dann gib Suko Bescheid. Er ist auf dem Weg zum Friedhof und müsste gleich dort eintreffen. Ich hoffe, dass Bill auch da ist.«
»Bin schon dabei, John. Dauert einen Moment. Halte Bill in der Leitung, dann ist es einfacher.«
»Was glaubst du, was ich die ganze Zeit mache?«
» … am vergitterten Fenster … kaum Empfang … Akku noch zwei Prozent … «
»Bleib einfach dran, Bill.«
Eine SMS erreichte mein Handy: Suko war auf dem Friedhof.
»Hast du schon was, Glenda?«, fragte ich sie, während ich auf dem Handy eine Nachricht an Suko tippte.
›Habe Bill am Handy. Wir orten ihn. Du bekommst gleich eine Info.‹
»Warte, John. Einen Augenblick noch.«
»Ich glaube … höre jemanden vor der Türe«, vernahm ich nebenbei Bills Stimme. Er klang ziemlich leise und die Unterbrechungen machten es nicht einfacher ihn zu verstehen.
»Hab ihn!«, rief Glenda auf dem Festnetz. »Highgate Cemetery ist richtig! Gut geschätzt, John!«
»Kannst du es genauer einkreisen?«
Aus dem Handy hörte ich plötzlich das Quietschen einer Türe, dann eine Frauenstimme und plötzlich Kampfgeräusche.
»Bill! Halte durch. Suko ist in der Nähe. Er holt dich raus!« Ich hoffte, dass mein Freund mich verstand.
»Es sieht nach einem Grab mitten auf dem Friedhof aus. Ich schicke Suko die Koordinaten.«
Glenda tippte nebenbei, während ich mich auf das Handy und Bill konzentrierte. Ich vernahm einen Schrei, dann Schläge. Ich wusste nicht, in welcher Verfassung mein Freund war und ob er sich wehren konnte.
»Die Koordinaten sind raus. Suko hat sie schon gelesen«, bemerkte Glenda.
Dieses verdammte Homeoffice. Ich war durchgeschwitzt und angespannt. Am liebsten wäre ich an Sukos Seite auf dem Friedhof und hätte Bill persönlich mit Beretta und Kreuz aus den Klauen der Vampirin befreit. So war ich hier zur Untätigkeit verdammt. Das war nichts für mich.
»Bill! Was ist los?«, fragte ich, weil ich weiterhin Kampfgeräusche und zwischendurch das Fauchen der Vampirin vernahm. Dann hörte ich plötzlich den Schuss aus einer Beretta und die Verbindung brach ab.
»Bill? Hörst du mich?«, rief ich aufgeregt.
»Was ist los?«, fragte Glenda. Sie war noch am Festnetz. »Ich habe einen Schuss gehört.«
»Ich auch. Suko scheint Vorort zu sein. Die Verbindung ist aber plötzlich abgebrochen.«
»Oh Gott. Hoffentlich geht das gut.«
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeiten, bis Suko sich endlich meldete:
»Alles klar, John. Ich habe Bill. Corinna ist tot. Dank Glendas Koordinaten habe ich das Grab schnell gefunden. War schon ein kleines Mausoleum. Die Türe stand sogar offen und ich konnte bis in das Gewölbe vordringen. Alles andere war ein Kinderspiel. Diese Corinna wollte sich gerade auf unseren guten Bill stürzen, als ich sie mit einer Silberkugel erlöste. Ganz einfach.«
»Ist Bill verletzt?«, wollte ich wissen.
»Ein paar Schrammen und blaue Flecken, aber nichts ernstes.«
Aus dem Hintergrund hörte ich Bill sprechen:
»So schnell kriegt mich nichts unter. Weißt du doch, John. Aber meine Kopfschmerzen … «
Ich hörte Suko lachen.
»Ich gebe ihm erst mal ein Schmerzmittel und dann fahren wir langsam ins Büro zurück. Alles weitere besprechen wir später.«
»Danke, Kumpel. Das war wirklich knapp. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich hier aushalten musste. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt. Also auf Dauer ist dieses Homeoffice nichts für mich!«
»Dann wird es Zeit, dass du morgen wieder ins Büro kommst.«
»Auf jeden Fall!«, versprach ich.
Und wieder rief Bill aus dem Hintergrund:
»Auf den Schreck müssten wir eigentlich einen trinken gehen!« Wir lachten alle drei, und ich konnte nur den Kopf über meinen alten Freund schütteln.
»Ich rufe Sheila an und gebe ihr Bescheid. Sie wird sicher auf heißen Kohlen sitzen und auf meinen Anruf warten.«
»Dann wird das mit dem Umtrunk heute wohl nichts mehr«, bemerkte Bill.
»Das vermute ich auch. Wir sehen uns später.«
Der Anruf bei Sheila war kurz, und Bills Frau war beruhigt, dass es ihrem Mann gut ging. Sie dankte uns und betonte immer wieder, das sie sich doch auf ihr Gefühl verlassen konnte.
Es war jetzt früher Nachmittag und ich kam langsam wieder zur Ruhe. Mein Kopf schmerzte immer noch und der Alkohol verflüchtigte sich nach und nach aus meinem Blut. Auf den Schreibkram hatte ich keinen Bock mehr, deshalb schlurfte ich zur Couch und ließ mich darauf nieder. Jetzt wollte ich noch etwas Augenpflege betreiben und später mit Bill telefonieren, um zu hören, was heute Morgen passiert war.
Ich schloss gerade die Augen, da klingelte mein Handy schon wieder. Was war denn jetzt noch los? Sir Powell rief an. Ihn konnte ich ja schlecht wegdrücken und nahm das Gespräch an.
»Glückwunsch, John. Ich habe von Suko bereits gehört, was sich in den letzten Stunden ereignet hat.«
»Danke, Sir. Es war wirklich knapp für Bill. Gar nicht auszudenken, wenn Corinna früher Appetit auf ihn gehabt hätte.«
»Aber es ist ja nochmals gut gegangen. Wie immer.«
Sir Powell legte eine kurze Pause ein und wechselte dann das Thema.
»Justine Cavallo hat mich angeschrieben und sich über sie beschwert, John. Sie schrieb, dass sie heute Morgen vergeblich versucht hätte, mit ihnen ein Treffen zu vereinbaren. Sie hätte gerne, dass sie jederzeit für sie verfügbar wären.«
»Sir, das ist nicht ihr Ernst. Die Cavallo hat mich mit einem Satz aufgefordert, sie zu treffen. Und heute Morgen hatte ich für ihre Spielchen einfach keinen Kopf.«
»Machen sie sich keine Gedanken, John«, beruhigte mich mein Chef. »Ich werde ihr auf die Mail nicht antworten. Und sie handhaben das in Zukunft, wie sie es immer gemacht haben. Ich weiß ja wie Justine Cavallo tickt.«
»Danke, Sir. Und diese Situation mit dem Homeoffice wird es so nicht wieder geben.«
»Gut, John. Dann sehen wir uns morgen im Büro.«
»Ja, Sir. Bis morgen.«
Ich legte das Handy zur Seite und schlief kurz darauf nochmals ein.
ENDE