Im Rahmen einer Neuveröffentlichung seiner Schattenherren-Triologie hat Robert Corvus im Jahr 2018 einen Kurzgeschichtenwettbewerb ausgerufen. Mit meiner Kurzgeschichte Die Rufe der Raben habe ich daran teilgenommen und bin unter die ersten fünf Finalisten gekommen.
Die Sieger-Geschichten kannst du hier lesen:
--> https://www.robertcorvus.net/rc_Schattenherz.shtml
Der Hintergrund meiner Kurzgeschichte spielt in der Welt der Schattenherren.
Hier findest du Infos zur Triologie.
--> https://www.robertcorvus.net/rc_schattenherren.shtml
Die Rufe der Raben
Alexander Weisheit
(weisheit(at)weisheitsperlen.de)
Das Erste, was ich spürte, als ich die Augen aufschlug, war die bohrende Angst in mir. Mein kleines Herz raste wie wild, und ich glaubte, mir würde der Brustkorb zerspringen. Schweiß rann von der Stirn an den Schläfen herab auf die Bettdecke. Die Hände und das Schlafgewand waren ebenfalls feucht geworden. Ich hatte die Augen weit aufgerissen, und der Atem kam stoßweise über die Lippen.
Warum war ich erwacht? Hatte mich ein Albtraum aus dem Schlaf gerissen, oder ein Geräusch? Vielleicht ein Schrei? Ich verharrte einen Moment, hielt den Atem an, doch es war still um mich. Vorsichtig richtete ich mich im Bett auf. Draußen war es dunkel, die Sterne konnte ich durch das geschlossene Dachfenster nur erahnen. Die Augen hielt ich weit offen, um in den diffusen Schatten etwas erkennen zu können.
Plötzlich huschte durch die Dunkelheit vor meinem Fenster ein schwarzer Schatten. Ich zuckte unwillkürlich zusammen.
Dann vernahm ich das tiefe Krächzen eines Raben - leise, durch das geschlossene Fenster. Weitere Raben flogen umher und riefen mehrmals hintereinander ihr tiefes ›Quork-Quork‹. Die Unglück bringenden Tiere schienen ihre Kreise um unser Haus zu ziehen.
Hatten die Geräusche von draußen mich geweckt? Aber die Rufe der Raben waren nicht laut …
Durch die Ritze der nicht ganz dicht gezimmerten Eichenholztüre drang ein flackernder Lichtschein. Feuer? Brannte es im Haus?
Ich nahm den typischen Brandgeruch wahr. Doch so ungewöhnlich war das nicht, denn in der kalten Jahreszeit brannte tagsüber oft ein Feuer im Kamin der Stube. Zum Kochen, zum Heizen … aber mitten in der Nacht?
War mein Vater noch wach und bereitete das Essen für die nächsten Tage vor? Er war ein leidenschaftlicher Koch, und ich hatte ihm manches Mal über die Schulter geschaut und bei den Zubereitungen geholfen. Das würde das Feuer erklären, aber nicht, warum ich erwacht war.
Gerade als ich die Bettdecke zur Seite schlug und die Beine aus dem Bett schwingen wollte, hörte ich von unten her ein dumpfes Geräusch, dann ein sich lang hinziehendes Schaben. Kurz darauf war es wieder ruhig. Immer noch schlug mein Herz schnell und wild in der Brust. Ich war alleine hier oben in der Dachkammer, meinem Zimmer. Das Schlafgemach meiner Eltern befand sich im Erdgeschoss neben der Stube.
Meine nackten Füße berührten sachte das Schaffell, welches als Vorleger auf dem Holzboden vor dem Bett lag. Langsam ging ich zur Zimmertüre und öffnete sie so leise wie möglich. Feuerschein und Brandgeruch kamen eindeutig von unten. Es brannte also wirklich im Haus! Aber warum hatten meine Eltern mich dann nicht geweckt und geholt? Schliefen sie vielleicht noch? Oder waren sie gar nicht mehr in der Lage, etwas zu unternehmen?
Ich schritt vorsichtig die hölzerne Treppe nach unten. Bei jeder Stufe ächzte das alte Holz, aber niemand schien Notiz davon zu nehmen, dass ich mich dem Erdgeschoss näherte. Normalerweise vernahm ich spätestens auf der dritten Stufe die energische Stimme meines Vaters aus der Stube, der mich ins Bett zurückbeorderte, wenn ich mich heimlich nach unten schleichen wollte und das knarrende Holz mich verriet. Jetzt hielt mich keine Stimme auf …
Unten angekommen sah ich die angelehnte Türe zur Stube. Dort war es dunkel. Der Schein kam eindeutig aus dem elterlichen Schlafzimmer. Bevor ich einen weiteren Schritt setzen konnte, hörte ich aus dieser Richtung ein schauerliches Stöhnen. Dieser Laut ließ mich frösteln. Es hörte sich an, als würde jemand schreckliche Schmerzen verspüren und unsagbar leiden.
Meine Knie wurden weich, und ich fing an zu zittern. Was würde ich jenseits der Türe finden? Kam ich rechtzeitig, um meinen Eltern zu helfen? Irgendetwas Unbegreifliches geschah mit ihnen.
Auch diese Türe war nur angelehnt, und ich bemerkte den hellen, silbrigen Glanz, der sich in den flackernden Feuerschein wob. Die Luft war vom Brandgeruch geschwängert, aber es roch unterschwellig nach noch etwas anderem. Nach etwas, was ich noch nie in meinem Leben wahrgenommen hatte. Zudem erreichte meine Ohren ein leises, undefinierbares Zischen und Knistern. All dies nahm ich in dem kurzen Augenblick wahr, als mein Blick durch einen schmalen Türspalt in den Raum fiel. Ich sah die Kommode in der Ecke und einen Teil des großen Wäscheschrankes. Beides brannte.
Meine Finger zitterten, als sie sich der Holztüre näherten. Eine innere Stimme warnte mich davor, sie zu öffnen. Aber der Gedanke, meinen Eltern helfen zu müssen, war stärker. Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn ich vor lauter Angst weggerannt wäre. Egal was mich erwartete.
Erst vorsichtig, dann etwas fester drückte ich gegen das alte Holz der Zimmertüre. Langsam breitete sich das Grauen vor mir aus, auf welches die sich knarrend öffnende Türe den Blick nur nach und nach freigab.
Zuerst sah ich die Kante des Bettes, ein Stück Decke, die verrutscht und unordentlich dalag. Dann kam der Rest des Bettes zum Vorschein, und damit auch meine Eltern. Ich erkannte sie nicht auf Anhieb, denn sie hatten sich schrecklich verändert. Ihre Haut war eingefallen und alt geworden. Sie sahen - mumifiziert aus! Verkrampft und verdreht lehnten sie am Rückteil des Bettes und zitterten leicht. Helles, sternenklares Licht floss aus ihren Oberkörpern und verdunkelte sich mit zunehmendem Abstand zu ihnen. Wohin es strebte, konnte ich noch nicht sehen. In diesem Augenblick wusste ich, dass die auf mich einprasselnden Bilder mich den Rest meines Lebens in Albträumen verfolgen würden.
Unfähig mich zu bewegen stand ich am Eingang des Schlafzimmers, hatte die Augen weit aufgerissen und musste das Grauen vor mir mitansehen. Das qualvolle Stöhnen drang weiter auf mich ein, aber ich konnte nicht erkennen, wer von den beiden es ausgestoßen hatte. Ein Schrei steckte in meiner Kehle fest und wollte über die Lippen dringen, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ich drehte den Kopf und der folgende Anblick machte das Grauen noch furchtbarer.
Neben dem Bett meiner Eltern stand eine in Schwarz gekleidete, hochgewachsene, bleiche Gestalt, die den Mund weit aufgerissen hatte. Sie sog den schwarzen Nebel ein, der als silbernes Licht aus den ausgezehrten Leibern gesogen wurde. Der Unheimliche hatte mitbekommen, dass ich den Raum betreten hatte. Von einem Moment auf den anderen versiegte die magische Verbindung, und der silbrige Glanz erlosch. Meine Eltern stießen tiefe Seufzer aus und sanken auf dem Bett zusammen.
Die Gestalt drehte ihren haarlosen Schädel in meine Richtung und starrte mich aus blutunterlaufenen Augen an, um die ein verzückter Ausdruck spielte. Ihre dunklen, fast schwarzen Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln.
»Wen haben wir denn da?«, hörte ich das Monster vor mir mit einer tiefen, hallenden Stimme sprechen. Es hatte eine Hand erhoben und deutete mit krallenbewehrten Fingern auf mich.
»Wie schön, du hast Angst! Das kommt mir sehr gelegen. Deine Angst wird mir guttun!«
Ich stand weiterhin starr vor Schrecken, und plötzlich durchfuhr mich die Erkenntnis, dass vier Schritt vor mir ein Osadro stand, ein Schattenherr. Schon oft hatte mir mein Vater schreckliche Geschichten über diese untoten Magier aus dem Norden, aus Ondrien, erzählt. Sie lebten von der Lebensessenz der Menschen, die sie bei der Entnahme meist töteten. Aber ich hatte noch nie einen gesehen. Bis jetzt waren sie für mich immer weit weg gewesen. Um so verwunderlicher war es, dass sie sich jetzt so weit in den Süden wagten. Mit dieser Intuition wusste ich auch, dass mir das gleiche Schicksal bevorstand wie meinen Eltern.
»Nicht … meinen … Sohn!«
Der Osadro und ich vernahmen die Worte gleichzeitig, sie ließen ihn einen Moment zögern. Ich konnte nicht zuordnen, von wem die Worte gesprochen wurden. Es hörte sich an, als wäre ein Toter aus seinem Grab gestiegen und spräche mit Erde in Mund und Luftröhre. Noch schlimmer wurde es für mich, als ich bemerkte, dass die mumifizierte Gestalt im Bett, die mein Vater gewesen war, diese Worte ausgestoßen hatte.
Er, oder das was von ihm übrig geblieben war, versuchte, sich im Bett aufzurichten, schaffte es jedoch nicht und hob nur langsam eine Hand. Seine feucht glänzenden Augen waren auf den Osadro gerichtet. Ich erkannte darin das Flehen, mich zu verschonen.
»Nicht … er …!«, bettelte mein Vater.
Meine Mutter lag auf dem Bett und rührte sich nicht mehr. Sie war sicher schon tot.
»Vater!«, hauchte ich kratzig.
Das Feuer hatte sich weiter ausgebreitet und machte das Atmen im Raum immer schwerer. Wenn ich nicht bald hier raus kommen würde, erstickte ich noch, bevor der Osadro mich in seine Fänge bekäme. Ich merkte, wie mir die Tränen heiß die Wangen hinab liefen.
»Nicht … Helion … flieh!«
Die Stimme meines Vaters war nur noch ein Röcheln und kaum zu verstehen.
Ich zitterte stark, mir wurde es heiß und kalt zugleich. Vor meinen Augen starb mein Vater im Bett, in dem meine Mutter bereits regungslos lag. Der Osadro stand abwartend daneben und verzog seine schwarzen Lippen zu einem diabolischen Grinsen.
»So habe ich es am liebsten«, sprach er mit seiner kalten, emotionslosen Stimme. »All deine Gefühle werden mir köstlich munden!«
Langsam öffnete er seinen Mund. Ich bemerkte bereits ein Ziehen im Brustkorb und glaubte einen silbernen Schein um mich herum wahrzunehmen. Gleich würde der Osadro meine Lebensessenz aufsaugen, genauso wie bei meinen Eltern. Doch das war mir in diesem Moment vollkommen egal. Was sollte ich denn ohne sie noch machen?
Plötzlich wurde ich an der Schulter gepackt und zurückgerissen. Ich schlug schmerzhaft gegen den Türrahmen, schrie auf und fiel halb aus dem Schlafzimmer.
»Weg da, Junge!«, hörte ich den etwas dumpf klingenden Ruf neben mir. Ein silberner Blitz schoss an mir vorbei und direkt auf den Osadro zu, der sich dem Neuankömmling bereits zuwandte.
Ich lag auf dem Boden, atmete schwer, und mein Blick war von Tränen verschleiert. Verschwommen sah ich die in einen silbernen Panzer gewandete Gestalt, die ihr Schwert schwang und damit auf den Osadro eindrang. Ein Paladin!, ging es mir durch den Kopf. Ein Mondschwert!
Der Krieger schwang furchtlos seine Waffe und traf seinen Gegner mehrmals. Schon der erste Schlag verletzte den Osadro, nach dem zweiten schrie er auf und sank in sich zusammen. Immer wieder drang das silberne Schwert auf die schattenhafte Gestalt ein und schlug ihr tödlichen Wunden.
Und trotzdem fiel mein Blick wieder auf das Bett zurück, in dem meine Eltern, jetzt reglos nebeneinander zusammengesunken, lagen. Ihre Seelen waren bereits auf dem Weg ins Nebelland. Im Tode noch hatte mein Vater die Hand meiner Mutter ergriffen, und seine andere war, in meine Richtung ausgestreckt, auf dem Bett zur Ruhe gekommen.
»Nein«, flüsterte ich zuerst. Dann entluden sich Wut und Trauer in einem einzigen, lauten Schrei: »NEIIIIIIIIIIIINNN!!!!«
Bewusstlos sackte ich zusammen …
Es war nicht sein Schrei, der Helion aus dem Tagtraum in die Wirklichkeit zurück riß.
Vorsichtig spähte er durch ein kleines Loch auf den vor ihm liegenden Ritualplatz. Seine Beine schmerzten, denn er hockte bereits seit letzter Nacht in diesem Versteck, einem magisch veränderten Baum. Helion war in Erinnerungen versunken gewesen. Immer wieder erlebte er den schrecklichen Augenblick, in dem er als achtjähriger Junge mitansehen musste, wie ein Osadro seine Eltern grausam tötete; meist in Albträumen.
Jetzt galt seine Aufmerksamkeit dem großen Opferstein inmitten des Platzes. Darauf lag Winena, eine Priesterin der Mondmutter. Ihr Brustkorb war aufgerissen. Daneben stand hochaufgerichtet Lisanne. Die Schönheit der Schattenherzogin überstrahlte alles, verbarg jedoch nicht die Grausamkeiten, die sie an ihrem Opfer vollzog: Sie hatte der Priesterin bei lebendigem Leibe die Innereien herausgerissen.
Winenas markerschütternde Schreie hallten noch in Helions Kopf nach, während sie nun reglos auf dem blutbesudelten Opferstein lag.
Wieder tauchten Bilder in Helions Kopf auf, diesmal aus der nahen Vergangenheit. Er dachte an Estrog, den starken Krieger, den scheinbar nichts hatte bezwingen können. Jetzt war er tot. Gestorben im Kampf gegen Lisanne. Limoras, ein Fayé, den er aus den Fängen der Schattenherren befreit hatten, war verletzt. Und Ajina … Bei dem Gedanken an sie krampfte sich sein Herz zusammen. Helion hatte sie geliebt, und auch sie hatte ihr Leben im Kampf gegen Lisanne verloren.
Tiefe Traurigkeit überkam ihn. Soviel hatte er an die Osadroi verloren. Und jetzt geschah es wieder - vor seinen Augen!
Etwas erhöht hinter dem Opferstein hockte auf einem Thron aus Menschenknochen der mächtigste der Osadroi - der Schattenkönig Elien Vitan. Gänzlich in schwarz gekleidet und auf dem bleichen Haupt thronend die dunkelrote, halbdurchscheinende Krone. Seine tiefschwarzen Augen blickten finster auf das vor ihm abgehaltene Ritual. Helions Angst, entdeckt zu werden, war unbegründet. Solange er seine Gefühle kontrollierte, würde ihn keiner der Osadroi bemerken. Für die Gardisten, die für einen störungsfreien Ablauf des Rituals sorgen sollten, war er zu gut verborgen.
Seit dem Tod seiner Eltern hatte er den Schatten den Kampf angesagt. Der Wunsch, ein Mondschwert zu werden, war Jahr für Jahr stärker geworden, bis er schließlich in Treaton den perfekten Lehrmeister gefunden hatte. Dank seiner Ausbildung hatte er das Ziel erreichen können.
Für Helion war jetzt der richtige Augenblick gekommen, sich Lisanne zu stellen. In ihr Ritual vertieft und geschwächt, hoffte er auf die Chance sie töten zu können.
Langsam stieg er aus der Öffnung des Baumes. Mit jedem Schritt wurden seine Bewegungen geschmeidiger. Von der Seite her trat er auf den Ritualplatz, sein Silberschwert schlagbereit in Händen.
»Mondschwert!«, schrie plötzlich einer der Gardisten und rannte mit erhobener Waffe auf den Eindringling zu. Helion unterlief den Angriff ohne Mühe und schlug sein Schwert in den Rücken des Gardisten, der daraufhin strauchelte und zu Boden stürzte.
Zielstrebig ging er weiter auf Lisanne zu, die den Ruf ebenfalls vernommen hatte. Sie blickte in Helions Richtung, und ihr grausam, schönes Lächeln verriet ihm, das sie ihn erkannte. Die Schattenherzogin wand sich vom Opferstein ab und erwartete ihren Gegner. Helions Blick fixierte den Lisannes.
Das Unterdrücken der Gefühle war eine der wichtigsten Lehren in der Ausbildung zum Mondschwert. Ohne seine Gefühle bot man den Osadroi eine geringere Angriffsfläche, wenn diese mit ihrer Magie versuchten die Essenz zu ernten.
Lisanne hatte Helion soviel Leid angetan. Dafür sollte sie nun bezahlen. Er warf seine ganze Vorsicht beiseite, ließ seinem Hass freien Lauf und ergab sich seiner Menschlichkeit.
Tränen rannen über Helions Wangen als er das Silberschwert zum letzten Kampf gegen Lisanne erhob.
Die Schattenherzogin erwartete ihn lächelnd …
ENDE